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Berliner Notizen - 2004 - Oktober
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Wo Wolfgang Thierse wohnt

Oktober. Aus dem Fenster des Restaurants „Belluno“ blickt der Gast auf das klotzige Denkmal zu Ehren der Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie gab dem Platz ihren Namen. Die Gegend um den Kollwitz-Platz gilt als Szeneviertel im ehemaligen Osten. Die Frau eines Arztes zeichnete viele der Patienten ihres Mannes mit Malkohle. Das Denkmal ist mit Graffiti beschmiert. Unten um den langen Rocksaum der in Metall gegossenen Frau juchzen spielende Kinder. Im „Belluno“ lärmen ebenfalls Kinder. Hier treffen sich Eltern aus der Szene, bei denen es zur legeren Lebensart zählt, dass ihre Leibesfrucht durch das Lokal jagt und andere Gäste belästigt. Einigen Kleinen ist jetzt schon die Arroganz anzusehen, die ihre Eltern wie eine Kerze vor sich hertragen. An einem Tisch sitzt ein Schauspieler aus einer Krimiserie. Namentlich kenne ich ihn nicht. Er guckt aber so, als würden ihn alle kennen. Wohl um nicht aufzufallen, trägt er eine sehr auffällige Brille. Draußen irren Touristen mit Karten in der Hand um den Kollwitz-Platz. Sicher werden viele von ihnen das Lokal suchen, in dem Gerhard Schröder und Bill Clinton aßen. Es liegt dem „Belluno“, Kollwitzstraße 66, schräg gegenüber. Als dieses Viertel noch zur Hauptstadt der DDR gehörte, lebte hier die alternative Szene des Staates der Arbeiter und Bauern. Die war von der Stasi durchdrungen. Günter Schabowski sagte darüber später ironisch: „Hätte ich gewusst, dass wir unsere Opposition auch noch bezahlen, hätte ich mehr auf den Putz gehauen.“

In der Nähe des Kollwitz-Platzes liegt ein alter jüdischer Friedhof. Ihn ließen die Nazis verkommen. Und die Verantwortlichen im Staate der Arbeiter und Bauern beließen es bei dem Verfall. An den Bauten um den Kollwitz-Platz ist noch immer zu sehen, dass hier Trümmer ohne Waffen geschaffen wurden. Es gibt einige von Ausländern geführte Lokale, aber anders als in Kreuzberg sind hier sonst kaum Menschen zu sehen, die aus anderen Teilen Europas stammen. „Belluno“ ist ein italienisches Restaurant. Mittags gibt es das Menü für 7,50 Euro. Das Restaurant ist gut gefüllt. Die Toiletten sind weniger „italienisch“ – denn „italienische“ sind meistens supersauber. Im Szenebereich muss der Gast großzügig sein.

Obwohl Bundestagspräsident Wolfgang Thierse inzwischen laut Protokoll das zweithöchste Amt im Staate hat, blieb er hier am Kollwitz-Platz wohnen. Mit Blick auf den morbiden Friedhof der Juden. Einen Umzug in die ihm zustehende Villa nach Berlin-Dahlem lehnte er ab. „Spiegel“-Reporter Jürgen Leinemann, der viele Politiker seit vielen Jahren auf Tuchnähe begleitete und darüber schrieb in seinem Buch „Höhenrausch“: „Noch immer lässt er sich von seiner Frau zu Hause die Haare schneiden, noch immer wohnt er in seiner viel zu kleinen, gemütlichen Etagenwohnung am Prenzlauer Berg. Er sitzt noch auf der alten Couchgarnitur aus DDR-Zeiten ... Ein wenig kokettiert er auch mit seiner Bildung, frei von Eitelkeit ist er keineswegs. Aber dass er den Wessis ungeschminkt vorwirft, sie interessierten sich in Wahrheit gar nicht für den Osten, und den Ossis ihr klebriges Minderwertigkeitsgefühl ankreidet – das macht ihn glaubwürdig für beide Seiten.“ Gelegentlich sehen ihn die Mitbewohner in der Kneipe am Kollwitz-Platz. Einige Touristen sagen dann, „der Mann da hinten sieht aus wie der Thierse“.

 

Schattenboxen in der Nähe von Gräbern

Oktober. „Volkspark Friedrichshain. Es dämmerte, die letzten Familien verließen den Park. Ich kam ein wenig spät, schaute unschlüssig. Hunde bellten, vier Volkspolizisten mit Taschenlampen machten die Runde. (...) Wie mit einem Zauberschlag leerten sich die Parkwege.“ So schreibt Jens Bisky in seinem Buch „Geboren am 13. August“ über den Volkspark Friedrichshain.

Es gibt erfreulicherweise keine Volkspolizei mehr. Vierzehn Jahre nach ihrer Abschaffung wird am späten Herbstnachmittag der Park vom Volk intensiv besucht. Kinder schreien vor Freude, Mütter laufen hinter ihnen her. Ältere Menschen genießen die letzten noch leicht wärmenden Sonnenstrahlen. Der Volkspark Friedrichshain ist hügelig angelegt. Auf einem Platz ragt eine helle schlanke Säule in den Himmel. Darauf steht die Büste des Friedrich, der den Beinamen der Große hat. Eine Dekoration aus der Zeit nach der DDR. Vor einem ehemals von Schulklassen zwangsbesuchten Friedhof im Park trainieren junge Männer ihre Reflexe: sie üben Schattenboxen. Und dies mit beachtlichem Eifer und Ausdauer. Sie tollen sich außerhalb der Wege auf der Wiese. Hinter ihnen liegt der „Friedhof der Märzgefallenen“. In einer Begleitkarte für Stadtwanderungen, vom „Tagesspiegel“ gedruckt, heißt es: „Auf diesem stillen Platz liegen die 254 Opfer begraben, die bei den Barrikadenkämpfen am 18. und 19. März 1848 in Berlin gefallen waren. ... In dieser Tradition fanden hier die Gefallenen der Novemberrevolution 1918/19 ihre letzte Ruhestätte. 1960 stellte man die Statue eines roten Matrosen links neben den Eingang, der an die Opfer der Revolution gemahnen soll.“ Der Matrose, in Metall gegossen, sozialistischer Realismus, kantiges Gesicht, kräftige Hände, muss gesucht werden – die Figur ist überwuchert vom Grün des Parks. Im Winter wird sie besser zu sehen sein. Seitlich von ihm auf einer Bank sitzen drei Männer: Gekleidet wie im olympischen Dorf in Trainingsanzüge, ungepflegt, Bierflaschen stehen zu ihren Füßen. Ein mittelgroßer Hund spielt auf den Rasenflächen des Friedhofs hier im Park. Der Besitzer lässt es zu. Die Anlage wirkt nicht deshalb morbide, weil es eine Grabstätte ist, sie ist heruntergekommen. Auf einem Stein neben dem Eingang zu der Gedenkstätte steht in metallenen Lettern: „Die Vorhut der Arbeiterklasse hat in der Novemberrevolution heroisch gekämpft. Walter Ulbricht.“ Die grauen Grabplatten liegen nicht mehr waagerecht. In das erste Grab rechts wurde bestattet ein „Schmiedelehrling, 19 Jahre, Berlin“. So die dürren Angaben. Umgekommen 1848. Daneben wurde eine Frau gebettet, 28 Jahre. Viele der Märzgefallenen haben keine Gedenksteine. Hinter den Hecken des Friedhofs im Park jagen sich Kinder beim Spiel. Die Schattenboxer üben lautlos. Der Hund schnüffelt in den Hecken. Die Trinker reden leise.

 

Bei Regen in Kreuzberg

Oktober. Im Café „Bergmann 103“ in der Kreuzberger Bergmannstraße sitzen wenige Gäste. Es regnet und ist herbstkalt. Dass bei dem Wetter kein Hund nach draußen getrieben würde, stimmt nicht. Immer wieder hasten Menschen mit frierenden Kötern an dem Lokal vorbei. Jeder scheint es eilig zu haben. Bei Sonnenschein vermitteln die Menschen den Eindruck von ruhiger Urlaubsstimmung. Vor dem Antiquariat in einem Eckladen sind die Auslagen auf dem Bürgersteig mit Planen bedeckt. Wühltischkunden haben keine Chance. Der aus Ostdeutschland stammende Antiquar sagt, seinem Geschäft schade der Regen nicht. Draußen auf den Tischen sind meist intensiv gebrauchte Taschenbücher im Angebot. Der Schaden wäre nicht zu hoch, würde mal eines stibitzt. In der Buchhandlung sind die Hardcovers aufgetürmt. Der Besitzer ist immer tätig: Er ordnet Bücher ein, registriert auf Zetteln seinen Bestand, trägt jedes verkaufte Exemplar in eine Kladde ein, prüft Angebote. Der Mann besitzt nicht nur das Antiquariat an der Bergmannstraße. „Ich bin fast ein Multi“, sagt der ansonsten wortkarge Händler ironisch. Taschen sind bei ihm zu hinterlegen, wenn sich der Kunde im ersten Stockwerk umsehen will. Sein Haus ist eine Fundgrube für Freunde der Klassiker. Und auch für Bücher aus der DDR. Dort wurden aus politischen Gründen gern Klassiker verlegt, weil die weniger politisch zu interpretieren waren als die damalige Gegenwartsliteratur. Aber fast alles, was von Autoren in der DDR in die Verteiler kam – der Staat der Arbeiter und Bauern hatte keinen „Markt“ - , ist an der Bergmannstraße in Kreuzberg zu finden. Auch Freunde fremdsprachig gedruckter Literatur kaufen hier günstig ein.

Vor dem Regen schützt wenige Meter weiter die Markthalle. Die besuchen auch gelegentlich Touristen, die das so genannte alte Berlin sehen wollen. In der Markthalle befindet sich eine Kneipe wie in den sechziger Jahren. Die Einrichtung eines Friseurs könnte von einem Museum übernommen werden. Beim Fleischer treffen sich die Rentner aus dem Kiez bei Bier und Bouletten. Oder es gibt Hackepeter, was im Westfälischen das Gehackte ist. Bäcker und Weinhändler, Lebensmittelgeschäfte und ein Laden mit Hundefutter befinden sich in der Markthalle. Wer den Geruch der verschiedensten Lebensmittel mag, bleibt länger. Unabhängig vom Regen.

 

Der Blick auf die Trauerweide

Oktober. Neun Jahre genoss ich den Anblick einer Trauerweide am Ufer der Spree. Aus meinem Fenster sah ich auf den gestauten Fluss zwischen Jannowitzbrücke und Fischerinsel. Das war einst die Gegend der armen Leute. Wilhelm Raabe diente der Bereich als Kulisse für seine „Sperlingsgasse“. Auf der Fischerinsel zeigen Hochbauten im sozialistischen Einheitsstil in den Himmel und verhässlichen die Gegend im Zentrum der Hauptstadt. Die Trauerweide hatte ich im Blick. Wenn die ersten Knospen sie leicht begrünten, stieg die Stimmung. Ihre Verfärbung im Herbst sah ich als Zeichen der Endlichkeit. Tagsüber urinierten Trinker in ihrem vermeintlichen Sichtschutz. Aus den Häusern am Ufer der Spree waren sie zu sehen. Nahe dem Stamm stand eine Bank. Hier verträumte mancher Mann den Tag, die Bierflasche neben sich. Über Jahre traf sich dort an den Sommernachmittagen ein unübliches Paar. Meist kurz nach 16 Uhr. Er ein älterer Mann, Typ Herr, sie eine sehr junge mögliche Studentin oder gut verdienende Sekretärin. Die blonde Frau war modisch gekleidet. In gedeckten Farben, nie dieses schrille Ostbunt. Sie küssten sich sehr ausdauernd, er befummelte sie verhalten. Nach jeweils einer Stunde trennte sich das Paar. Er ging in Richtung Stadthaus nahe dem Alexanderplatz, sie lief zum anderen Ufer auf das Märkische Museum zu. Dort hatte sie ihr Auto geparkt. An warmen Tagen schwammen im Schatten der Trauerweide juchzend Kinder in der Spree. Auf der Bank nahe dem Baum lag ihre Kleidung. Mädchen und Jungen rivalisierten mit viel Spaß beim Tauchen. Ihre Freudenschreie drangen noch durch geschlossene Fenster.

Jahrzehnte zuvor spielte an dieser Stelle Günter Lamprecht. Er entstammt ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater, ein Nazi, fuhr Parteigrößen, soff in der Freizeit und verprügelte gnadenlos die Ehefrau. Lamprechts Kinderzeit wurde verschönt beim Baden in der Spree. „Eine Trauerweide ließ ihre Zweige bis ins Wasser hängen. Da blieben wir ungestört, bis auf ein paar Wasserratten und die Enten, die sich am Abend unter dem mächtigen Baum zum Schlafen einfanden“, schreibt er in seiner Biografie „Und wehmütig bin ich immer schon.“

„Die vollbesetzten Ausflugsschiffe stampften an unserer Oase vorüber, vergnügte Leute winkten uns zu, bis das Schiff unter der Brücke verschwand; von dort dröhnte die Begleitmusik noch mal so stark. Und am Abend, wenn sie zur Anlegestelle Jannowitz-Brücke zurückkehrten, sangen die Passagiere trunken die ‚Rosamunde‘ oder ‚Und wieder geht ein schöner Tag zu Ende.‘ ... Für nen Fuffziger von der Jannowitzbrücke mit nem Köpper springen – das war keine Seltenheit. Da gab’s Leute, die sich köstlich amüsierten, wenn wir oben vom Geländer ins Wasser hopsten und denen beim Auftauchen den nackten Hintern zeigten.“

An der Jannowitz-Brücke gibt es zwei Anlegestellen für Ausflugschiffe. Aber die Gegend ist wenig bewohnt. Am Ufer wurde aus dem Haus des FDGB die Botschaft Chinas. Auch Brasilien ließ ein Hochhaus für seine Vertretung bauen. Daran schließt sich die der Republik Angola an. Nahe der Trauerweide gibt es ein Schifffahrtmuseum. Alte Kähne aus der Kinderzeit des Günter Lamprecht liegen an der Spree vor Anker. Wohl bis zu ihrer eventuellen Verschrottung. Auf einem einstigen Dampfer befindet sich eine Gaststätte. Der Andrang ist mäßig. Nahe der Trauerweide startet ein noch dampfbetriebenes Schiffchen nach Einzelaufträgen; Hochzeiten oder runde Geburtstage werden darauf gefeiert während der Fahrt Richtung Treptow und zurück. Legt das Boot wieder an nahe der Trauerweide, singen wie damals die beschwipsten Gäste. Aber andere Lieder als „Rosamunde“.

 

Rückblick auf Berlin

„Ich kam gegen Abend in Berlin an; es dunkelte; ich kenne diese Stadt genau, und dennoch irrte ich lange Stunden durch die Straßen, die nicht mehr Straßen sind, erkannte nicht die Plätze, verlor mich inmitten der Schutthaufen. Nur ein Faschist kann sich am Anblick von Ruinen berauschen. Ich aber wünsche anderes: Ich wünsche den Faschismus gestürzt, in Trümmern zu sehen wie in Berlin...“ Ilja Ehrenburg (1891 – 1967), veröffentlicht 1947.

 

Nach der Einheitspartei die Einheitssoße?

Oktober. Es riecht nach Imbissbude. Auf den Tischen liegen weiße Decken. Die Möbel sind sachlich modern gestaltet, die Wände des Restaurants „Der Thüringer“ in Weiß gehalten. Farbige Plakate mit Fotos von Schlössern im Freistaat wirken wie bunte Kleckse. Das Restaurant in der Vertretung des Landes Thüringen beim Bund in der Berliner Mohrenstraße 64 ist offen für jeden – der bezahlen kann. Aus einem Hinterraum dringt lautes Gerede von Männern. Erst fürchtete ich, in der Küche werde gelärmt. Und die weitere Angst ist, dass zu viele Köche den Brei verderben. Der Kellner ist freundlich. Das Angebot auf der Speisekarte ist thüringisch ausgerichtet – so gibt es Weimarer Kartoffelauflauf. Selbstverständlich sind Bratwürste Spitzenreiter auf der Karte. „Gadde“ wird sie wohl vor Ort ausgesprochen. Gemäß dem Credo von Prinz Charles, dass die Waren aus ökologischen Gründen aus der Region kommen sollen, wird „Grünberg Quelle“ als Mineralwasser serviert. Es stammt aus Brandenburg. „Spree-Quell“ aus Berlin wäre passender. Die Beilagen für die bestellte Kaninchenkeule sind „im Moment nicht vorhanden“, entschuldigt sich der Kellner. Ein Hauch von DDR. „Das herzustellen dauert zu lange.“ Also wird das Kaninchen mit Klößen geordert. Bisher kannte ich den Begriff hartleibig nur gegenüber Menschen. Seit dem Essen im „Thüringer“ passt er auch auf Karnickel. Die Teller sind klein, deshalb ist das Essen darauf gehäuft. Von Italienern lernen heißt servieren können – die bevorzugen große Teller und drapieren das Essen darauf. Auch das Auge möchte was vom Essen haben. Als in der DDR die Versorgung schwierig wurde, ordnete das Politbüromitglied Günter Mittag an, dass ab sofort im Staate der Arbeiter und Bauern zum selben Preis die Portionen zu verkleinern seien. Günter-Mittag-Portionen, hämten die Ossis zum Beispiel über schmale Kuchenstücke. Und es wurde der Witz verbreitet: Vor dem Haus des Politbüros erscheint ein Kannibale. Der Pförtner fragt, was der wolle. „In die Kantine – Mittag essen.“ Ob aus der Zeit die kleinen Teller stammen?

Die dunkle Soße schmeckt unangenehm intensiv. Ich schaue auf die Nebentische. Irgendwie mutig wirken die anderen Gäste, die hier essen. Auf dem Weg zur Toilette schaue ich auf ihre Teller. Auf allen liegt das Essen in der jeweiligen dunklen Soße. Einst Einheitspartei, nun Einheitssoße? Es ist Donnerstag. „Der Stern“ liegt aus. Aber nicht der von diesem Donnerstag. Der vom vergangenen. Auf dem Weg zu der sauberen Toilette betrachte ich die mampfenden Ministerialen. Sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich. Alle um die vierzig Jahre alt. Die meisten tragen Anzüge in einem dunklen blau oder grau. Sie sind laut. Einige hauen auf den Putz. Dass mit MP der Ministerpräsident gemeint ist, weiß ich. Sie gleichen dem Dieter Althaus. Schauen aber nicht so verschlagen wie der.

 

Die Berliner Kleinstadt Spandau

Oktober. „Ich komme aus Spandau“, antwortet Burgunde Grosse immer, wenn sie gefragt wird, ob sie aus Berlin sei. Sie sitzt für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Zu betonen aus Spandau zu sein, ist in dem Bezirk an der Havel üblich. Spandau ist eine Kleinstadt innerhalb der Großstadt. Ähnlich wie Verden an der Aller. Sogar mit schmalen Gassen und Fachwerkhäusern darin. Da viele Berliner dazu neigen, nur selten ihren Kiez zu verlassen, dürften auch Spandauer kaum aus ihrer Kleinstadt „nach Berlin“ fahren. Trotz bester Anbindung an die innerstädtischen Verkehrslinien. Bekannt ist das Städtchen im Sportleben durch die Wasserballmannschaft von Spandau 04. In dem Werbeblättchen „Spandau aktuell“ heißt es: „Der Deutsche Wasserballrekordmeister Spandau 04 erhielt eine Einladung zu dem derzeit wohl bestbesetzten Wasserballturnier für Vereinsmannschaften. Erstmals wird der ‚Governor’s Cup‘ in Chechov (Moskau) durchgeführt.“ Und sie sind dabei.

Wie in vielen Kleinstädten wird auch Spandau von einer Hauptstraße durchzogen, der längste Teil ist eine Fußgängerzone. Wer die Carl-Schurz-Straße durchschlendert, flaniert an den Filialen von Kaufhauskonzernen vorbei. Am Markt macht eine alt eingesessene Mittelständlerfamilie gute Geschäfte mit einem Café – wie einst in der DDR stehen die Kunden gelegentlich bis auf die Straße. Aber nicht aus Mangel, wegen des außergewöhnlich guten Angebotes. In dem Café ist es meist proppenvoll – auch wie einst in der DDR. Aber die Gäste sind gepflegter gekleidet.

Die parallel zur Carl-Schurz-Straße verlaufenden Gässchen bieten dörfliche Ruhe. In einem wird mit einem Denkmal an den preußischen Kommunalreformer Freiherrn von und zum Stein erinnert. Von der Figur des Westfalen ist nur der Oberkörper auf einen Sockel gesetzt. Auf seinem sehr breiten Kreuz lebten Sprayer ihre Verschmutzungsasozialität aus. Im tiefen Schatten einer mächtigen Kirche liegt das Altstadt-Café. Es wird überwiegend von alten Menschen besucht. Offensichtlich gibt es in Spandau eine Häufung von Seniorenheimen. Für eine üppige „Residenz“ wird in einem Reklameblättchen vor Ort geworben. Das Angebot an Kuchen ist eher dürftig. Die nicht sehr üppige Tasse Milchkaffee kostet 2.70 Euro. Das Stückchen Torte 2.45 Euro. Saftig für die Gegend.

Spandau wurde über Jahrzehnte in der Wochenschau gezeigt. Im dortigen Kriegsverbrechergefängnis saß Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß. Auch in der heißesten Phase des kalten Krieges arbeiteten die ehemaligen Alliierten in Spandau zusammen: Jeweils nach einem Monat gab es eine Wachablösung von Briten, USA-Einheiten, Franzosen oder der Roten Armee. Das war jeweils ein Spektakel für die Wochenschau, wenn Rotarmisten vier Wochen lang in Westberlin Wache schoben. Hunderte von Soldaten bewachten einen Kriegsverbrecher. Nach dem Tod des einzigen Insassen wurde das Gefängnis geschleift. Kein Stein erinnert mehr daran. In weiser Voraussicht wollten die Alliierten verhindern, dass Spandau in Berlin eine Kultstätte für uneinsichtige Neo-Nazis würde.

 

Der Kiez von Köpenick

Oktober. Am 16. Oktober vor 98 Jahren marschierte der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt in einer geliehenen Hauptmannuniform mit einigen Soldaten in das Rathaus von Köpenick. Von „allerhöchster Stelle“ sei er beauftragt, den Bürgermeister festzunehmen. Der wurde eingesperrt, die Stadtkasse ließ der Schuster mitgehen. Auch der Kaiser soll über die Köpenickiade gelacht haben. Für Heinz Rühmann war der Schuster Voigt eine Glanzrolle. Die Szenen der Besetzung des Rathauses wurden an den Originalschauplätzen in Köpenick gedreht. Die anmutige von Spree und Dahme umspielte Berliner Kleinstadt Köpenick feiert jedes Jahr am 16. Oktober ein Hauptmannsfest. Eine kostümierte Garde nimmt erneut den Bürgermeister fest. Ein Gaudi für die Touristen. Vor dem Rathaus steht lebensgroß in Metall gegossen der Schuster Voigt in seiner Hauptmannsuniform. Es war umstritten, ob einem Gauner und Betrüger ein Denkmal gesetzt werden sollte. Wenn es denn dem Tourismus dient …

Das Städtchen Köpenick ist von Wasser umgeben. Vor den Toren ergießt sich die breite träge Dahme in die Spree. Auch an Wochentagen bevölkern Touristen die Stadt mit ihren engen Gassen. Deshalb gibt es in Köpenick auf den Kopf der Bewohner gerechnet eine überdurchschnittlich ausgeprägte Gastronomie. Dass in einem Fischlokal Kohlroulade an der Spitze der Speisenkarte steht, schuldet es wohl dem Geschmack der Bewohner. Das Köpenicker Schloss war am Ende der DDR fast nur noch eine dem Verfall überlassene Fassade. Ungepflegt zeigte sich der einst anmutig gestaltete Schlossgarten. In einem Marstall wurde ein Café betrieben. Das war trotz des Mobiliars im HO-Design der DDR meist überfüllt. Köpenick wurde herausgeputzt. Die in Weiß gehaltene Fassade des Schlosses spiegelt sich im Wasser der Dahme. Ihm gegenüber wurde ein modernes Hotel gebaut, ein beachtlicher optischer Kontrast zu beiden Seiten des Flusses. Der Schlossgarten ist wieder gepflegt. Das Schlossmuseum zeigt eine breite Palette deutschen Kunsthandwerks. Aus dem Restaurant wurden Stühle und Tische aus der Ära der Arbeiter und Bauern Geschmack bildend entfernt.

Vom linken Ufer der Dahme auf ihren letzten eigenständigen Metern ist das Panorama des Städtchens zu sehen. Der Bereich ist nicht zugänglich, weil Clubs und Privatbauten das Gelände in Beschlag nahmen. An einem Schild steht: „Vereinsgelände. Betreten verboten.“ Ich möchte aber vom Ufer ein Foto schießen. Die Klinke gibt nach, das Tor ist nicht verschlossen. Ich öffne es und schiebe vorsichtig mein Fahrrad hinein. Ein deutscher Hausmeister mit Ausbildung in der DDR schießt im Stile eines Schäferhundes auf mich zu. Bevor der obligatorische Satz fällt, „kannst du nicht lesen?“, frage ich freundlich: „Darf ich bitte ein Foto auf Köpenick machen?“ Er starrt mich an. Schnell folgt lächelnd gesagt: „Sonst hindern Sie mich daran, das Foto meines Lebens zu machen.“ Das wirkt. Er macht Platz und sagt sogar „bitte“. Danach zeige ich dem Mann das Foto auf der Rückseite meiner Digitalkamera. Ein deutscher Hauswart kann sogar lächeln.

Oskar Lafontaine lobte in seiner früheren Funktion als Vorsitzender der SPD ein Ostunternehmen aus Köpenick. Als einen Beweis für den Fortschritt in den so genannten neuen Ländern. Am Ufer der Dahme verleiht das Unternehmen nahe dem Köpenicker Schloss solarbetriebene Boote. Es sind Zweisitzer im Angebot und Schiffe mit Touren für zehn Personen. An der Verleihstelle unterhalten die Betreiber auch noch ein Café in einem hellen Glasbau. Moderne Technik im Schatten eines Schlosses. Weiter am Ufer der Dahme liegt eine Straße mit dem Namen „Fischer-Kiez“. Hier lebten einst die Flussfischer von Köpenick. Reich wurden sie mit ihrer mühsamen Arbeit nicht. Kleine Häuschen bauten sie sich, die noch erhalten sind und der Straße das Flair des vorvorigen Jahrhunderts geben. Die Stimmung wird in Deutschland gern als Gemütlichkeit beschrieben. In den vergangenen Jahren wurden in dem Städtchen mehrere Cafés eröffnet. Cafés sind das Zeichen für die Ansiedlung des Bürgertums.

In der warmen Jahreszeit marschiert täglich eine kostümierte, mit Holzgewehren ausgerüstete Garde durch die Straßen von Köpenick. Als Gaudi für die Touristen. So mancher Besucher wird darin wohl Heinz Rühmann vermissen.

 

Nach Berlin – vor 50 Jahren

Oktober. Der im englischen Exil lebende Journalist Sebastian Haffner wurde 1954 Korrespondent des britischen „Observer“ in Berlin. Er kehrte zurück nach Deutschland, seine in London aufgewachsene Tochter Sarah erinnert sich an den Umzug vor 50 Jahren: „Im Dunkeln kamen wir in Berlin an. Früh nachts, spät im September. Es regnete. Ich war müde von der langen Fahrt, und mein erster Eindruck war flüchtig. Hohe Häuser in nassen Straßen. Düster kam mir die Stadt vor. Wir fuhren in eine Pension in Lichterfelde, wo wir bleiben sollten, bis die Möbel eintrafen und die Wohnung eingerichtet war. In den folgenden Tagen gab es andere Eindrücke von der Stadt, die mir nicht wie eine richtige Großstadt vorkam. Was waren das nur für viele Bäume und merkwürdig leere, breite Straßen. Hier außerhalb war wenig zerstört, aber im Zentrum, das gar nicht wie ein Zentrum wirkte, gab es viele Ruinen. Die Ruinen empfand ich nicht oder nicht nur als schrecklich. Manche hatten bizarre Formen wie die Kirche mit dem abgebrochenen Turm, die Oliver und mir als Sehenswürdigkeit gezeigt wurde. Manche hatten etwas verwegen Romantisches, Kletterpflanzen rankten an ihnen hoch. Bäume wuchsen aus den Dächern. Es gab Häuserreste, wo die Innenwand Außenwand geworden war. Die unterschiedlichen Tapetenmuster ergaben zusammen ein Bild: das frühere Leben im Haus zu riesigem Patchwork geronnen. Es gab auch Lücken oder flache Baracken zwischen den hohen, grimmig-grauen Häusern. Einstöckige Straßenbahnen, blassgelb, fuhren in löchrigen Straßen umher. (...) Klein kam mir die Stadt überhaupt vor. Lichterfelde sogar dörflich.“

Entnommen: Sarah Haffner. „Eine andere Farbe“. Geschichten aus meinem Leben. Transit-Verlag. Berlin 2001.

 

„BILD“ dir ein Großmaul

Oktober. Die Berliner Großmäuligkeit weiß „Bild“ zu artikulieren. Die Hertha verlor 0:1 in Berlin gegen Borussia Dortmund. „Bild“ am 27. Oktober: „0:1 gegen Trümmerhaufen Dortmund. Hertha, wie kann man gegen die verlieren?“

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