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Berliner Notizen - 2003 - Februar    Sie sehen die Druckversion

Berliner Begegnungen

Februar. Vor dem Kulturkaufhaus Dussmann in der belebten Friedrichstraße steht der Abgeordnete Werner Schulz von den Grünen mit seinem typisch weinerlichen Gesicht. Er redet auf einen Mann ein, dabei rückt er dem sehr nahe, so dass der Andere ständig seinen Atem spüren müsste. Werner Schulz erweckt den Eindruck, als wolle er gleich über alles Elend dieser Welt flennen – oder auch nur tief seufzen.

Nach Überquerung von Unter den Linden führt die pulsierende Friedrichstraße in Richtung Kaufhaus Lafayette. Direkt hinter einem Repräsentationsgebäude der Firma Audi kreuzt Rudi Carrell meinen Weg. Er ist sportlich gekleidet, hager, das graue Haar wippt in einer Tolle nach vorn über die Stirn, und er ist übellaunig. Es heißt ja, ein Clown sei privat gar nicht lustig. Der 5. Februar ist ein sonniger Wintertag.

Der Regisseur Leander Haußmann muss tagsüber viel Zeit haben. Oft sehe ich ihn im Berliner Stadtteil Friedrichshagen mit einer Plastiktüte in der Hand über die Bölschestraße ziehen. Aus dem Mantel mag der hoch aufgeschossene Mann vor Jahren heraus gewachsen sein oder die Ärmel sind bei der Reinigung eingelaufen. Vielleicht ist er einer der letzten Opfer von Rewatex. Ausführlich beobachte ich ihn am 13. Februar bei Kaiser's, hier nach alter Art „Kaufhalle“ genannt. Der Einkaufswagen ist auch nach einer halben Stunde kaum gefüllt. Überrascht bin ich aber, bei dem Ost-Intellektuellen „Gala“ zwischen Gemüse und Knäckebrot liegen zu sehen.

„Tag der Entscheidung“, so ein Schriftzug auf den Bildschirmen. Aus einem Studio im fernen Köln berichtet man an diesem 14. Februar über eine Entscheidung der UN zu Krieg oder Frieden in dem noch ferneren New York. In der Fernsehabteilung von „Saturn“ am Berliner Alexanderplatz ist die Sendung auf zig Schirmen gleichzeitig zu sehen. Rolf Scheller vom ARD-Hauptstadtstudio interessieren die dramatischen Berichte nicht. Er sucht in den Angeboten. Wie seit Jahren trägt der Berichterstatter seine Prinz-Eisenherz-Frisur, aber inzwischen ist sie intensiv ergraut. Ich nenne ihn einen Alt-68er, und meine Frau ergänzt, die Betonung liege auf alt. Rolf Scheller ist kanarenbraun und darauf offensichtlich stolz. Ich spreche den Redakteur an, erinnere ihn an ein Treffen vor Jahren in seiner Kölner Wohnung, langsam hellt sich des Kollegen Gesicht auf. Wohin denn ein „gut verdienender öffentlich-rechtlicher Redakteur in den Urlaub“ reise, frage ich zum Abschied. Eine überflüssige Frage, natürlich nicht auf die Kanaren: „In die Karibik.“ Das hätte ich auch erraten können. Die 68er sind oben angekommen.

Zwischen den Regalen mit Laptops im Angebot steht puppenklein, offenbar unschlüssig, mit signalähnlichen parteirotem Schopf Petra Pau von der PDS. Ich hatte sie schon öfter hier in der Stadt gesehen, jedoch nie als so zierlich empfunden. Ihr Kaufwunsch muss ausgefallen sein, der Verkäufer verschwindet wiederholt in einem Kabuff, kommt zu ihr, redet auf sie ein, wieder läuft er zurück ins Lager. Ich gehe hinter ihrem Rücken in Richtung ausgestellter kleinerer Laptops und sage: „Vorsicht, nicht zurücktreten.“ Sie lächelt schwach. Ironie kommt bei orthodoxen Sozialisten wohl nicht an.

„Das Einstein“, wie die Medienleute das Café Unter den Linden verkürzt nennen, ist ein wichtiger Berliner Umschlagplatz für Gerüchte, aus denen dann Nachrichten werden. Die Serviererin ist an diesem frühen 27. Februar aufgekratzt. „Wegen des schönen Wetters“, sagt sie. Für gut zwei Stunden durfte ich eine Kollegin aus Thüringen durch das morgendliche Berlin führen. Hier im Einstein sitzen schon die ersten Nachrichtenhyänen. Einige Tische weiter hocken drei Bekannte von mir aus der Vertretung des Landes NRW beim Bund. Nahe an einer Wand hat sich die frühere Berliner und Hamburger Justizsenatorin Peschel-Gutzeit in eine Tageszeitung vertieft. Im hintersten Winkel des L-förmigen Raumes redet die Ministerin Renate Künast auf zwei Frauen ein. Die aus Recklinghausen stammende Ministerin wirkt schon in der Frühe so drahtig wie immer. Gelegentlich schießt ihr Arm mit einer geballten Faust in die Luft nach vorn. Damit wird sie ihren Argumenten Nachdruck geben wollen. Ich dachte, Minister regieren um diese Zeit schon. Zu meiner Bekannten sage ich: „Wenn es heißt, in politischen Kreisen von Berlin wird behauptet, dann meinen die dieses hier“, und mache mit der Hand eine kreisende Bewegung. Draußen sichern bewaffnete Polizisten die US-Botschaft, die nur ein Fußballfeld weit vom Café entfernt liegt. Ein früherer Medienkollege von mir aus der Vertretung des Landes NRW setzt sich kurz zu uns an den Tisch. Ich stelle die Frau vor und sage, sie komme aus Suhl. Wir sehen beide an seinen Augen, dem Düsseldorfer in Berlin sagt Suhl nichts. „Das liegt in Thüringen“, ergänzt sie selbstsicher. „Ah so“, sagt der aus dem größten Bundesland.

 

„Neues Deutschland“ und der Bäcker

Februar. Nicht ohne Triumph in der Stimme erzählt mir die Verkäuferin in der Bäckerei nahe dem S-Bahnhof in Berlin-Friedrichshagen, dass ihrem Chef fristlos gekündigt wurde. Nicht von ihr. Er hatte von einem Großbäcker auf eigene Rechnung diesen Laden gepachtet. Sie verwendet sogar den Fachbegriff. Ich habe ebenfalls eine klammheimliche Freude. Denn der Bäckerei-Pächter trat meist so auf, wie der kleine Moritz glaubt, so lebe ein Kapitalist. Er fuhr ein zu großes Auto, war sonnenbankgebräunt, hatte blond gefärbtes Haupthaar wie der einstige Bundesligakicker Strunz; gelegentlich stand der Mann vor der Verkaufstheke und prahlte zu laut, während seine Ehefrau dahinter für den Umsatz schuftete. Der habe mittags in die Kasse geschaut, Geld heraus genommen, am Abend noch einmal, und dann war er ständig unterwegs, berichtet die Verkäuferin. So sah ich ihn auch einmal im benachbarten Ort Schöneiche um die Mittagszeit in einem Bäckerei-Imbiss stehen und den Max machen. Arbeiten sah ich ihn in seinem kleinen Laden nie. Der Prahler ist nicht der erste Ostdeutsche, der ungeniert den Klassenfeind spielte, wie ihn einst das ND beschrieb: Der ein üppiges pralles Leben auf Knochen der arbeitenden Klasse führt. Eine Wirtin glaubte, sie müsse nur einige Male am Tag in ihrer Gaststätte vorbei kommen, das Personal kontrollieren, ansonsten könne sie mit dem Sportwagen fahren und ein Luxusleben führen. So wie der Krupp, als der Krause für ihn schuften musste. Kleine Bauunternehmer im Ort glaubten auch, dieses Leben auf Kosten anderer sei für sie die Wende. Über jeden Absturz freue ich mich. Weil die so rücksichtslos gegen ihre Mitarbeiter waren.

 

Kein üblicher Samstag

Februar. In dem kalten Monat ist es ein trüber Tag. Zuvor schien längere Zeit die Sonne über Berlins Winterlandschaft. Die S-Bahn ist um 10.59 Uhr am Bahnhof Friedrichshagen Richtung City erheblich voller als üblich an einem Samstag. Aus dem Brandenburgischen reisen junge Menschen an mit Transparenten und Spruchtafeln. „Bush ist ein Terrorist“, pinselte ein Girl auf Pappe. Es sind Jugendliche aus der Provinz, die dieses Mal nicht aufgeregt vor einem Stadtbummel in der Bahn sitzen. Sie reisen zum Alexanderplatz zur Friedensdemo. Die Stimmung ist unaufgeregt und friedlich. Anders als sonst an den Samstagen steigen in Köpenick und Karlshorst nicht Shopping-Touristen ein, es sind Demonstranten. In Rummelsburg platziert ein reiferes Paar sich neben uns. Ich höre, die Frau ist Russin. Halblaut buchstabiert sie laut den Text auf dem Pappdeckel der jungen Frau: „Bush ist ein Terrorist.“ „Das weiß doch jeder“, sagt für meine Begriffe zu grob ihr deutschstämmiger Begleiter. „Hoffentlich kommen genug“, so die Frau, „damit das richtig was wird.“ Sie sieht wie wir ab Jannowitzbrücke die Auffahrt von Bussen, die Russlandstämmige wird aufgeregter vor Begeisterung.

Meine Frau und ich fahren vor der Demo zum Essen nach Kreuzberg. Bei dem „Griechen“ in der Nähe des Adelbert-von-Chamisso-Platzes sind nur wenige Gäste. Es ist eine Gegend des alternativen Bürgertums. Samstags wird ein Markt für Ökokost aufgebaut. Auch dort sind weniger Kunden als sonst, das wohl nicht wegen der beißenden Kälte. Auch in der benachbarten Bergmannstraße ist es stiller. Nach dem Essen fahren wir mit der U-Bahn in Richtung City. In der ansonsten überfüllten Friedrichstraße sind weniger Menschen als sonst, vor uns liegt die historische Strecke Unter den Linden. Über sie flanierte Heinrich Heine, ritt Napoleon, schlugen die Stiefel der SA, marschierte die Rote Armee als Siegerin, und nun sind Demonstranten zu sehen. Sie kommen von rechts und gehen mit ihren Transparenten, Fahnen und Schildern nach links in Richtung Brandenburger Tor. Ein Blick auf die Uhr - seit einer Stunde schon. Trotz der vielen Menschen herrscht eine Art friedlicher Ruhe. Mit einer Kollegin aus Suhl habe ich mich in einem Autohaus an der Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden verabredet. Meine Frau fragt mich, ob bei der Menge von Menschen ein Treffen möglich sei. An einem Cafétisch sitzt ein mir gut bekannter Düsseldorfer. Der Mann ist hoch gewachsen. Gelegentlich erhebt er sich, verlässt dieses Autohaus und schaut über die Menge Richtung Rotes Rathaus und Berliner Dom. Nach jeder Rückkehr ist er begeistert, das dauere noch lange, ruft er uns zu. Wir warten. Draußen ziehen die Massen vorbei. Ohne Musikbegleitung, keine Rufe, es ist still trotz der vielen Menschen. So habe ich noch nie eine Demo erlebt; und ich kenne viele. Die Frau aus Suhl wird untergegangen sein. Wir warten nun schon 50 Minuten. Der Zug scheint kein Ende zu haben. Ein letztes Mal noch halte ich vor dem Kaufhaus Ausschau. Da sehe ich sie vor mir, ein selbst gestaltetes Pappschild vor der Sportkleidung in Brusthöhe, über ihrer Schulter hängt schlaff eine Fahne von ver.di; zwischen den Hochhäusern ist es windstill. Auch sie wirkt ruhig. Nach einigen Absprachen gehen wir in Richtung Brandenburger Tor, laufen hindurch, „in den Westen“, wie die aus Thüringen amüsiert sagt, und treffen auf der Straße des 17. Juni noch viele Bekannte aus der Bundesrepublik. Alle sind gelöst, wirken fast heiter, obwohl doch die meisten glauben, Bush wolle den Krieg. Die Reden höre ich mir in Ausschnitten am Abend im Fernsehen an.

 

In der Bronx

Februar. In dem S- und U-Bahnhof Neukölln herrscht gegen elf Uhr hektisches Gedränge von Menschen aus den verschiedensten Nationen. Der Bezirk gilt in dieser Gegend als die Bronx von Berlin. Das behauptete vor Jahren „Der Spiegel“. Im Bahnhofsgebäude gibt es den obligatorischen Obst- und Gemüsestand eines Südeuropäers, am Ausgang lauern Vietnamesen und verkaufen Zigaretten ohne Steuerbanderole. Und finden ständig Käufer. Die Karl-Marx-Straße führt in den Bezirk hinein. Auch in der heißesten Phase des kalten Krieges leistete sich Westberlin in Neukölln die Karl-Marx-Straße. Auf der anderen Seite wurde die Stalin-Allee umbenannt in Karl-Marx-Allee. Der rote Backsteinturm der Evangelischen Magdalenen-Kirche zeigt in den verrauchten Himmel. Der Friedhof dieser Gemeinde wird durch Mauern und Gitter von der Karl-Marx-Straße abgeschottet. Auf einem Bürgersteig steht ein grün gestrichenes eisernes Pissoir, ein Hauch von Frankreich. Ein Mann kommt aus dem stinkenden Rund und schließt sehr umständlich seinen Hosenlatz. Kindermalereien hängen in einem Schaukasten der Kirchengemeinde. Die Besitzer kleiner Läden betreiben einen dramatischen Preiskampf nach unten - bei jeder plakatierten Neueröffnung wird mit einem günstigeren Angebot geworben. Am Karl-Marx-Platz demontieren die Markthändler ihre Verkaufsstände schon vor der Mittagszeit. Der Rand des Platzes wird dominiert von einigen Skulpturen, die als befremdlich empfunden werden könnten – ein Zentaur in der Bronx? Schwer zu verstehen. Schräg gegenüber liegt das Café Reicharts. Seit 1950 scheint sich dort kaum etwas geändert zu haben. Die freundliche Servierfrau muss gelegentlich einer sehr alten fast blinden Kundin deren Geld aus der Börse nehmen. Gerade mit Euros und Cents kommt die Frau nicht mehr zurecht. Sie entstammt einer Zeit, als der Taler zumindest noch vom Hörensagen bekannt war. Mit Sirenengeheul fährt nebenan ein Polizeiwagen vor. Die Geschäftsinhaberin läuft den Beamten auf dem Bürgersteig entgegen. Jugendliche hatten in die geöffnete Kasse gegriffen und sind geflüchtet. „Am helllichten Tag“, ruft sie. Die Menschen schauen kurz hin, schlendern unaufgeregt bis stoisch weiter vorbei an Zeitschriftenläden, Kaffeeröster-Filialen, Obstgeschäften, Wettbüros und Dienstleistungsangeboten für Tattos. Nur die jüngeren Neuköllner scheinen es eiliger zu haben.

Im Neuköllner Saalbau liegt „die“ Institution des Bezirks, das Café Rix. Künstlertreff, Ruheort des Bürgertums, hier verhandeln an den Tischen Vertreter mit Kunden. An der Decke des dunklen großen Raumes arbeiten zwei Ventilatoren mit riesigen Rotoren, deren Summen ist zu erahnen, nicht zu hören. Dafür aber ein Rudel weiblicher Kunden, das berlintypisch zu laut lacht und redet. Die Sitzbänke an den Wänden sind mit Leder bezogen, die Tische davor schwarz gestrichen. Der Vorraum dient auch als Einlass für einen Theatersaal. Das Ensemble des Café Rix gleicht einem Staatsbad aus dem vorvorigen Jahrhundert. Es könnte auch in Marienbad oder Bad Oeynhausen liegen. Oder Schönbrunn! An den Wänden hängen riesige Spiegel, die das Café optisch vergrößern. Neben mehreren Exemplaren der „Berliner Zeitung“ liegt auch eine rosafarbene Nummer der „Financial Times Deutschland“ im Ständer – sie ist aber vom Vortag. Eine Serviererin schreibt auf eine Tafel die Angebote für die Mittagszeit. Die Schale Milchkaffee kostet 2,50 Euro. Viele der Bewohner dieser Karl-Marx-Straße werden sich nicht hineintrauen in das Neuköllner Café Rix.

 

Das große Fressen

Februar. „Die fressen ja alle in den Bahnen und Bussen.“ So unsere Besucherin aus Stuttgart. Die Frau gilt nicht gerade als aufmerksam und wird von mir eher als Person mit einem Hang zum Autismus gesehen. Sie war nach mehreren Fahrten durch Berlin sogar betroffen, wie ungeniert viele Einwohner der Hauptstadt in öffentlichen Verkehrsmitteln essen. Es ist so. Zwar tun es nicht alle, aber seit dieser Erkenntnis zu Beginn des Monats waren alle Beobachtungen positiv, das heißt negativ für die Einheimischen. Jeweils mindestens eine fraß gierig in der Bahn. Eine deshalb, weil es meist Frauen sind. Frauen deshalb, weil die Männer meist über das Auto verfügen. Die erste Testfahrt beginnt in der Straßenbahn von Berlin-Friedrichshagen nach Berlin-Adlershof. Vor mir sitzt eine Enddreißigerin, das Haupthaar wurde an dem Tag nicht gewaschen, ich meine sogar hörbar verschlingt sie vor mir sitzend ein Butterbrot. In Köpenick steigt eine Jugendliche zu, sie zerkaut ungeniert ein Bratwürstchen. In der Bahn stinkt es. Dass in der Bahnhofshalle Adlershof sehr viele essen, gehört zu Berlin. Der Bausenator setzte sich sogar dafür ein, am Brandenburger Tor eine Würstchenbude zuzulassen. In der Hauptstadt für diese Fressstellen zu sein, ist politischer Populismus. Sicherlich wäre in keiner anderen Stadt über ein solches Thema so ausführlich berichtet worden wie in den Medien hier - darf am Pariser Platz vor dem Tor des Berliners kulinarischer Höhepunkt, die Curry-Wurst, verkauft werden oder nicht?

In die S-Bahn Richtung Spandau steigt eine schlanke Türkin, die kräftig isst. An der Haltestelle Treptower Park wird eine Dicke ihre Fresskollegin - die greift ständig in eine dann raschelnde Tüte und zieht daraus Gebäck. Meinen aggressiven Blick versteht sie nicht. Sie hätte auch rufen können: Wieso, die fressen doch alle! Alle nicht. Am Alex verstinkt ein Typ Studentin den Waggon mit Essen vom China-Imbiss. Der Hackesche Markt ist Endstation der Testfahrt. Dass hier auf dem Platz mir mehrere begegnen, die Brötchen in sich hinein schieben oder sich gierig über Kebab beugen, nehme ich ruhiger hin als in der Bahn. Einen Tag später drängt an der Station Jannowitzbrücke eine Frau in die stark gefüllte S-Bahn. Meine Frau und ich stehen an der Eingangstür. Nach vorn gebeugt drückt sich die essende Frau in den Waggon, sie verschlingt Kebab, dessen Reste zu Boden fallen. Um sie zu treffen, sage ich laut: „Es ist doch schlimm, dass die Ossis ständig in Bahnen fressen.“ Sie schaut hoch. Zerknautscht die Reste in der Hand und drückt das fette durchtränkte Bündel in ihre Einkaufstasche. Am Ostbahnhof müssen wir umsteigen. An der Bahnsteigkante begegnet uns die sicherlich hungrige Fresserin. Tiefdunkle zornige Augen sehen uns an. Zwischen Ostbahnhof und Friedrichshagen kommt es nicht einmal zu einer fressfreien Strecke zwischen den vielen Bahnhöfen. Vor mir sitzt eine Dicke, die zwischen ihre feisten Oberschenkel eine Tüte quetscht; aus der zieht sie mit der Ausdauer eines Warenlaufbandes Gummibärchen heraus und verschlingt sie jeweils aus der Handfläche.

Bremer, Berliner und die Weltpolitik

Februar. Vor der Vertretung des Ländchens Bremen in der Hiroshimastraße tanzen im Abenddunkel Bremer und singen rheinische Karnevalslieder. Sie sind offensichtlich Karnevalisten aus Bremen. Das klingt wie Pazifisten aus dem Pentagon. Um „Grundwerte für eine gerechte Weltordnung“ wollen Sozialdemokraten im Hause gegenüber an diesem Abend diskutieren. In dem Gebäude der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bis zu den Büsten von Böckler, Ebert und Schumacher dringt von draußen der Gesang der hanseatischen Jecken. Die Sozialdemokraten werden im Innern der Stiftung an einem Bücherstand animiert, sich zu bilden. Auf einem Pappschild steht: „Es werden Kreditkarten akzeptiert.“ Auch amerikanische. Um diese späten 30 Minuten nach 19 Uhr strömen viele Interessierte in das gut geheizte Haus. Einige Besucher halten sich in der Caféteria auf. An Getränke-Automaten können sich die Sozis personalfrei beköstigen. „Alles das kostete Arbeitsplätze“, sage ich zu einem Herrn mit einer aufgedreht wirkenden, zu modisch gekleideten Frau. „Das ist so“, antwortet der mutmaßliche Globalisierungsgegner. In einem Zeitungsbericht würde es heißen, das Publikum sei gemischt. Viele Ausländer, inzwischen wohl Inländer, hocken in den Stuhlreihen. An etlichen Frauen und jungen Männern sehe ich, Turnschuhe außerhalb des Sportplatzes zu tragen, scheint üblich zu sein. Allroundtalent Wolfgang Thierse soll das Einführungsreferat halten und danach sich und andere moderieren.

Wie beim Beginn eines Pontifikalamtes kommen die Protagonisten für das Podium aus einer Seitentür und platzieren sich. Die Professorin Dr. Gesine Schwan könnte von denen, die sie nicht kennen, für ihre Sekretärin gehalten werden. Das unnatürlich blonde Haar ist nach oben gesteckt und bildet dort eine Wiese aus künstlichen Locken. So wie es in Hollywoodfilmen der sechziger Jahre üblich war. Ihr Jackett ist signalrot. Wolfgang Thierse ist blau durchgestylt worden. Wie früher Helmut Kohl, aber dessen Blau war kräftiger. Der Bundestagspräsident erklärt mit feiner Ironie, er sei als Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD hier. Nun erlebe ich ihn schon gut zwölf Jahre. Seine Veränderungen konnte ich in der Zeit beobachten: Wolfgang Thierse sprach stets besser als er nun immer öfter Texte von Referenten verliest. Über seine Schulter strahlt durch ein Panoramafenster in Leuchtschrift: Grand Hotel Esplanade. Der Präsident erwähnt, zehn Minuten reden/lesen zu wollen, es werden fünfundzwanzig. Nach dieser knappen halben Stunde moderiert er. Die Gesprächsführung sieht so aus, dass er Professorinnen und Professoren in einer von ihm gewählten Reihenfolge mitteilt, wann sie ihre Texte als Diskussionsbeiträge verlesen werden. Weil Politiker meinen, alles zu können, bleibt die Moderation schlecht, er unterbricht nicht, mahnt nicht zur Kürze, reizt nicht zum Widerspruch. Es ist das übliche Elend: Die Damen und Herren auf dem Podium sind sich in der Grundrichtung einig, eitel aber verbeißen sie sich deshalb in Petitessen. Die ehemalige Präsidentin des Schweizer Parlaments, Dr. Gret Haller, spricht in ihrem Idiom Moral als Morol aus. Sie bringt den Unterschied zwischen dem alten Europa und dem neuen Amerika auf wenige Sätze: In Europa gilt die Stärke des Rechts, in den USA das Recht des Stärkeren. Unser Völkerrecht wurde geschaffen im Westfälischen Frieden von 1648. Gäben wir den USA nach, fielen die Europäer zurück auf die Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg. Nach 50 Minuten diskussionsfreien Redens vorn sehe ich rechts von mir einen Mann, dessen Augen geschlossen sind, der Kopf fällt auf die Brust. Er schnarcht aber nicht. Da half auch optisch ein bunter Schwan mit Vornamen Gesine nicht, um ihn nach der Arbeit vor Müdigkeit zu schützen. In 85 Minuten hörten die Menschen im Raum vier Redende, einschließlich Wolfgang Thierse.

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