Hans Dieter Baroth   Home

Berliner Notizen - 2003 - September

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Lange lebt die DDR

September. Achtzig Millionen Deutsche können sich geirrt haben. Nicht das System der alten BRD hat sich durchgesetzt, die DDR ist stärker und hat uns alle schleichend eingenommen. Bei der Post in Berlin-Friedrichshagen möchten meine Frau und ich seit einem Vierteljahr selbstklebende Briefmarken im 100er-Pack kaufen, einmal hatten wir sie dort in der Form schon erworben. Die seien nicht mitgeliefert worden, Bertelsmann stelle die jetzt her und liefere nicht, es seien keine gekommen, so hieß es alle zwei bis drei Wochen mit auffälliger Kaltherzigkeit von einer der dort beschäftigten drei Frauen. Am 15. September erlebten wir bei der Post in der Bölschestraße von Berlin-Friedrichshagen, dass wir aus dem falschen westlichen System kommen. Wieder fragt meine Frau nach den Briefmarken in der speziellen Form. Die Augen der Brünetten hinter der „Verkaufs?“-Theke verfärben sich dunkel vor Zorn, ihr Mund wird vor Wut zu einem unerotischen Strich. Sie kläfft zu laut und unbeherrscht, es seien keine geliefert worden, zwischendurch wären mal welche hier gewesen. Die Postangestellte begreift (noch) nicht, dass ein Kunde es wagt, etwas zu fordern, was von ihrem Unternehmen angeboten wurde. „Jetzt verstehe ich, warum die Menschen hier die DDR nicht mehr wollten“, sage ich. Sie zittert - vor Wut vermutlich. Aus alter Tradition der DDR merkt sie nicht, dass sie sich frech verhält, sie hält den Kunden für frech. Es wird keine Lieferung versprochen. Sie sagt nicht, sie werde unverzüglich welche bestellen. Sie beantwortet auch mein „Auf Wiedersehen“ nicht. Zumindest hierbei ist sie ehrlich, denn sie wird uns nicht wieder sehen wollen.

Am 16. September informiere ich mich über das Internet, die Post hat diese Marken weiterhin im Angebot. Ich gehe erneut zur Filiale an der Bölschestraße und stehe wieder vor der Brünetten. Dreimal verweigert sie auf mein freundliches „Guten Tag“ eine Antwort. Sie schweigt und schaut durch mich hindurch. „Ich möchte 100 selbstklebende Briefmarken bestellen, denn laut Internet sind die im Angebot.“ Ihre Kollegin schaut zu uns herüber, verwundert über so viel Frechheit eines Kunden. Ob sie beide still bedauern, dass es offiziell die DDR nicht mehr gibt? Ich könne ja die Marken im Internet bestellen. Nun bin ich Eiferer für die Marktwirtschaft auch hier in Ostberlin. „Nein, ich möchte nicht über das Internet bezahlen, ich möchte sie hier bei der Post kaufen.“ Zwei Augenpaare hinter der Theke taxieren mich wie Scharfrichterinnen einen Verurteilten. Die Brünette sagt, die nächste Lieferung komme am 14. Oktober, „aber ob dann welche geliefert werden?“ Und nun bin ich wieder Luft.  Könnte ich sie dann kaufen, hätte ich vier Monate bei der Post um 100 selbstklebende Briefmarken gekämpft. (Fortsetzung folgt)  

 

Berlin beginnt an der Erpe

September. Nur wenige Meter hinter Ravenstein beginnt Berlin. Ravenstein ist ein Kaff in Brandenburg mit vielleicht 30 Einwohnern. Es besteht aus wenigen Villen im Wald. Und es liegt in dem Örtchen hart am Rande Berlins ein graues verwohntes Haus. „Feierabendheim“ hieß es im Staate der Arbeiter und Bauern. Hierin wurden unter elenden Bedingungen alte Menschen zu Lebzeiten in dunklen Zimmern aufgebahrt. Waren die Fenster der Räume im Sommer geöffnet, sah der Wanderer sie dort tagsüber im Bett liegen. Das Kopfende ihrer Liege zum Licht hin, so dämmerten noch atmende Leichen den Rest ihres Lebens ab. Inzwischen ist der Altbau kaum noch bewohnt, die Transfermittel aus dem Westen ermöglichten einen Neubau. Nur wenige Meter von dem Altenheim entfernt fließt durch Ravenstein die Erpe, hier erreicht sie Berlin. Auf einigen Landkarten ist sie als Mühlenfließ ausgewiesen. Die Erpe ist ungefähr drei Meter breit. Ihr Wasser wieselt in Richtung Spree. Das Erpetal ist satt grün, an den Ufern des Flüsschens stehen Trauerweiden. Etwas weiter ab liegen am Rande des Waldes Datschen. Sie heißen nicht offiziell Ossiglück, bedeuteten das aber in der DDR. Hier in dieser Idylle beginnt Berlin. Ruhe liegt über dem Tal. Vögel nisten in den Bäumen. Kinder fischen in der Erpe. Enten ziehen ihre Brut auf. Einst lagen in ihrer Nähe einige Einrichtungen der DDR, so eine internationale Journalistenschule. Nun unterhält das Bistum Berlin an der Erpe eine Bauhütte. Von deren Leitung bin ich schon gelinkt wurde, was belegt: Glaube schützt vor Lügen nicht. Die Erpe fließt unterhalb der S-Bahnstrecke zwischen Erkner und Ostbahnhof. Noch einmal erreicht sie ein unbesiedeltes Tal innerhalb der Hauptstadt. Hier fließt ihr Wasser träge zwischen Schilf und altem Baumbestand dahin. Wer an dieser Stelle ausgesetzt würde, glaubte sich in der niedersächsischen Provinz, weitab von größeren Städten. In Hirschgarten nahe Köpenick macht die Erpe zwischen Villen ihre letzten Meter. Sie ist nicht breiter geworden. In der Siedlung führen mehrere Straßen sternförmig auf einen Obelisken zu. Hier soll Gerald Götting, der über 80-jährige Vorsitzende der Block-CDU der DDR, leben. Zur Miete. Türschild für Türschild habe ich mir angeschaut, seinen Namen fand ich nicht. Misstrauisch sahen mir dabei einige Bewohner zu. Nach ihm zu fragen, wagte ich nicht. In Hirschgarten mündet die Erpe in die Spree.

 

Am rechten Rand der Müggelspree

September. Die Spree verlässt bei Erkner den Dämmeritzsee und erreicht Berlin, sie heißt hier Müggelspree. Hinter sich lässt sie ein literarisches Erbe. Gerhart Hauptmann lebte einst in dem vor Berlin liegenden Städtchen Erkner. In einer Geschichte von ihm verirrt sich im frühen Dunkel des Winters eine Familie auf dem Eis des Dämmeritzsees, findet das Ufer nicht mehr und kommt um. Hauptmanns Story „Bahnwärter Thiel“ spielt bei Erkner an der Spree. Die Müggelspree wird nur noch von Ausflugsschiffen befahren. In den ersten Jahren der DDR verkehrten dort noch schwere Lastkähne. An ihrem rechten Ufer liegt der erste Berliner Ort: Hessenwinkel. Er hat mit Hessen so viel gemein wie Hessens Ministerpräsident Roland Koch mit der Wahrheit. Hessenwinkel ist ein Villenviertel mit schlechter Infrastruktur. Es ist reines Wohngebiet mit einem asiatischen Lokal an einer ruhigen Straße. Über Hessenwinkel liegt immer Ruhe. Auch die Müggelspree liegt ruhig in ihrem Bett. Sie hat von Cottbus bis Köpenick pro Kilometer ein Gefälle von nur 17 Zentimetern. In der Hauptstadt selbst sind es nur neun Zentimeter.

Auf Hessenwinkel folgt „Neu Venedig“. Schmale Stichkanäle zweigen ab von der Müggelspree und führen an Gärten und meist kleinen Häusern vorbei. Es ist so eine Art Venedig für mittlere Angestellte. Auch hier gibt es keine Geschäfte und zu wenig Lokale. Die Bewohner leben offen zum Wasser, aber abgegrenzt mit Zäunen und Hecken zum jeweiligen Nachbarn. An den warmen Tagen sieht der Besucher fast ausgezogene zu dicke Frauen und wanstige Männer in Minimalbekleidung Gärtchen und Häuschen pflegen. Es gibt vereinzelt sogar Kinder hier. Beim Anblick der werkelnden Menschen käme sonst der Verdacht auf, hier sei das Sexualleben eingestellt worden.

 

An einem Samstag im Fischerdorf

September. Von der Hauptstraße des Berliner Vorortes Rahnsdorf weist ein Schild auf eine Fähre über die Spree und zum „Fischerdorf Rahnsdorf“, der Urzelle dieses Stadtteils. Es ist Samstag, die Sonne scheint. Die Fahrt mit dem Fahrrad führt über eine holprige Kopfsteinpflasterstraße. Bei den nächsten Gabelungen ist kein Hinweisschild, ich verirre mich heillos in einer verbauten Gartensiedlung. Ein typisch deutsches Ende meiner Tour: „Privatweg“. Ein älterer Einwohner in kurzer Hose erklärt mir mit norddeutschem Akzent den Weg zum Fischerdorf. „Am Feuerwehrhaus vorbei, dann rechts über den Knüppeldamm.“  Der Knüppeldamm ist wiederum eine in der DDR vernachlässigte Kopfsteinpflasterstraße, die den Stahlrahmen des Rades stark fordert. Das alte Fischerdorf ist erreicht. Ostunkundige könnten es für ein olympisches Dorf halten, weil die Männer überwiegend im Trainingsanzug zu sehen sind, der ist im Osten übliche Ausgehkleidung. Vor drei Jahren waren hier die Häuser noch DDR-grau. Viele sind inzwischen saniert, ein mehrstöckiges Mietshaus ist unbewohnt. Davor ist ein alter Golf geparkt. Der Briefträger symbolisiert das Leben. Hin und wieder kläfft ein Hund. Die Straße führt um die Ortskirche herum wieder hinaus. „Gas weg“, mahnt ein Schild die Autofahrer. Am Kirchturm hängt ein Spruchband mit einem Text gegen den geplanten Großflughafen Schönefeld. Kommt er, fliegen hier die Jumbos in niedriger Höhe über das Dorf. Eine Tafel klärt auf: Fast das gesamte Ensemble steht unter Denkmalschutz. Das Fischerdorf wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Und es steht geschrieben, es habe über eine lange Zeit so sehr im Abseits gelegen, dass die Entwicklung Berlins diese kleine Stadtgemeinde nicht erreicht habe. Sie liegt hart an den Ufern der Müggelspree. Die einzige Kneipe scheint außer Betrieb. Hinter ihr liegt am Wasser eine Pension. Stündlich bringt eine Fähre der BVG für einen Fahrschein des öffentlichen Nahverkehrs die Menschen auf das andere Ufer. Die Kirche wird an diesem frühen Samstag gereinigt. Ihre Eingangstüren stehen weit auf. Eine Frau in einem blauen Kittel schleppt Putzeimer. Der Briefträger grüßt den Fremden. Aus dem Gotteshaus erklingt Orgelmusik. Ich sitze auf einer Bank davor und höre zu. Kirchenmusik ist für mich zeitlos. Eine Fahrradtouristin mit süddeutschem Dialekt fragt freundlich, ob ich „jetzt schon zuhöre“. Ich verstehe die Frage nicht. „Heute Abend um 19.30 Uhr ist das Orgelkonzert.“ Ich will am Abend nicht hierher kommen. Sie drängt mehrere Male, doch hier zu sein. Dann wünscht sie „noch einen schönen Tag“ und radelt wenige Meter bis zum Ufer der Müggelspree. Sie lässt sich übersetzen. Auch wenn sie nicht süddeutsch gesprochen hätte, wegen ihrer Freundlichkeit wäre sie nicht in den Verdacht geraten, eine Berlinerin zu sein. 

 

Die Spree als sauberer Schwan

September. Hinter dem Fischerdorf Rahnsdorf ergießt sich die Müggelspree in den Großen Müggelsee. Er ist, wie der Name schon verkündet, Berlins größter See, er soll auch der sauberste sein. Er sei schön wie der Bodensee, nur kleiner, schrieb einst ein Dichter über dieses Gewässer, das im Süden bis an seine Ufer Wald hat. In seiner Mitte durchschneiden die Ausflugsboote das Wasser. Segelboote geben dem Blau des Sees bunte Tupfer. Am nördlichen Ufer erstrecken sich Naturstrandbäder und der ehemalige Kurort Friedrichshagen, der inzwischen zum Bezirk Treptow-Köpenick gehört. In dem kleinen eingemauerten Staat war diese Region Urlaubsgebiet, sogar für Berliner. Walter Ulbricht hatte in Friedrichshagen am Müggelsee seinen so genannten Sommersitz, Angestellte der Staatssicherheit verbrachten in einem Hotel am Ufer ihre Urlaube. In einem Altenheim nahe dem See lebten Bevorzugte des Staates der Arbeiter und Bauern. Die Tochter des Präsidenten Wilhelm Pieck und die Dichterin Anna Seghers. Auch das Mitglied des Politbüros Mückenberger. Zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts wohnten in Friedrichshagen viele aufrührerische Poeten. In die Literaturgeschichte gingen sie ein als Friedrichshagener Dichterkreis.

In Friedrichshagen verlässt die Spree nahe dem Landungssteg für Ausflugsdampfer den Müggelsee. Sie fließt in Richtung Köpenick. Nach wenigen Metern gibt es einen großen volkstümlichen Biergarten, Ausflügler sitzen am rechten Rand der Spree. Unter ihr verbindet ein Fußgängertunnel die Ufer. Er wurde in der Weimarer Republik gebaut und war Drehort für Bert Brechts Film „Kuhle Wampe“. In Berlin wird behauptet, an dieser Stelle bewege sich die Spree als sauberer Schwan in Richtung City, in Charlottenburg verlasse der Fluss als schmutziges Schwein sein Bett und ergieße sich so in die Havel. Anders war es beweisbar im August 2003. Ein Wasserexperte schüttete in Köpenick farbiges Pulver in die Spree. Das Wasser transportierte es nicht Richtung Berlin-Mitte, stattdessen gen Friedrichshagen. Der Müggelsee hatte wegen der Hitze und Trockenheit des Sommers extrem viel Wasser verloren, durch seine Sogwirkung floss es deshalb in Richtung Quelle statt Mündung.

 

Bobachtungen in einer Metropole

September. Dass Berlin zu den Metropolen der Welt aufgestiegen ist, bekam Oberstaatsanwalt Jürgen Heinke zu spüren: Auf dem Potsdamer Platz wurde er am helllichten Tag zusammengeschlagen. Jürgen Heinke verfolgt die linke Szene der Hauptstadt. Der Oberstaatsanwalt geht von einem gezielten Angriff aus. In Berlin agieren gewaltbereite linke und rechte Gruppen. Der grüne Bundestagsabgeordnete Christoph Ströbele wurde von einem politisch Rechten am S-Bahnhof Warschauer Straße zusammengeschlagen. Rein zahlenmäßig sind bei Überfällen osteuropäische Gangs aber aktiver.

Berlin ist vom Lebensgefühl noch getrennt in Ost und West, in einigen Verhaltensweisen aber eine Einheit. Im Kaufhof am Ostberliner Alexanderplatz erzählt mir eine Französin, Berlin sei eine schöne Stadt, wenn es die Berliner darin nicht gebe. Im Luxuskaufhaus KaDeWe im Westen fragen in einem Aufzug drei schnuckelige Italienerinnen eine Berlinerin, ob in der dritten Etage die Damenabteilung sei. „Ich bin hier nicht die Fahrstuhlführerin“, kläfft sie die drei Girls an. „Die Berliner sind für mich bis heute ein Problem“, sagte der geborene Berliner Regisseur Peter Zadek dem „Spiegel“ (29/2003) in einem Interview. „Die Berliner Presse ist heute noch genauso provinziell wie vor zehn Jahren, und es ist kein Zufall, dass es in Berlin keine überregionale Zeitung gibt.“

Beim Zeitungskonsum ist Berlin weiterhin gespalten. Würde ein aufmerksamer Beobachter mit verbundenen Augen in eine S-Bahn gesetzt, er wüsste nach der Befreiung von seiner Sichtblende bald, ob er durch den Ost- oder den Westteil fährt. In der erfreulicherweise versunkenen Hauptstadt der DDR lesen viele das Boulevardblatt „Kurier“ oder die „Berliner Zeitung“, wenige die Bild-„Zeitung“, einige mehr die „B.Z.“, die wegen ihrer primitiven Ausdrucksweise und politischen Rechtslastigkeit auch mal B.Z gleich Bauarbeiter-Zeitung genannt wird. („Saddam, verpiss dich!“ lautete eine Schlagzeile.) Zum Glück wurde vor Monaten ihr bisheriger Chefredakteur Georg Gafron abgesetzt. Er sieht aus wie der Schweinebaron aus einer bekannten Operette, der Mann war einst aus dem Staat der Arbeiter und Bauern hinausgeschleust worden und galt als der größte Angriff der DDR auf die westlichen Medien. Im Westteil von Berlin dominieren in der Bahn als Lektüre „Der Tagsspiegel“, die „taz“, leider auch „Die Morgenpost“,„Bild“ und „BZ“ aus dem Hause Springer. Häufig ist erfreulicherweise außerdem die „Süddeutsche Zeitung“.

Sprachlich und begrifflich ist die Stadt auch noch geteilt. Der katholische Feiertag Himmelfahrt wird im ehemaligen Westberlin Vatertag genannt, im Ostteil dagegen Herrentag. Obwohl im Straßenbild gerade dort Herren kaum zu sehen sind, Männer genug. An den Sommertagen tragen die Männer in Hohenschönhausen oder zwischen den Plattenbauten von Wartenberg kurze Hosen, in Zehlendorf oder Grunewald gilt diese Bekleidung als belächelte Ausnahme.

„Trend unter Jugendlichen: Trinken bis zum Filmriss“, schreibt der „Tagesspiegel“ am 15. Juli 2003. Auch hier geht ein Riss durch Berlin. „Grundsätzlich seien aber junge Männer aus dem Ostteil der Stadt in Sachen Alkoholmissbrauch die gefährdetste Gruppe. (...) Sie träfen sich vielfach am Wochenende und tränken ‚bis zum Filmriss‘. Das Besondere beim ‚Binge Drinking‘ (zu deutsch: Kampftrinken) ist, dass auf Tempo getrunken wird, damit die Wirkung des Alkohols möglichst stark und schnell einsetzt.“

Emnid hatte im Juli 2003 ermittelt, dass die Deutschen unterschiedliche Dialekte sexy finden. Eine Annäherung erfolgt demnach auch darüber. Es heißt über die vereinte Stadt: „Jeder dritte West-Berliner lässt sich übrigens von Rheinländern aus der Reserve locken, während die Ost-Berliner eher Verfechter ihrer eigenen Mundart sind.“

Wer in Charlottenburg, Wilmersdorf oder Spandau zu Kaiser’s oder Edeka einkaufen geht, nennt den Namen des Geschäftes. Anders in den Ostbezirken – hier sagt man überwiegend Kaufhalle. So hießen die armseligen Verkaufsstellen im Staate der Arbeiter und Bauern. Im gesamtdeutschen Duden gibt es den Begriff nicht.

Ein in Berlin lebender Schauspieler, der in einer Telekom-Werbung einen klassischen deutschen Spießer darstellt, akzeptierte einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft. In seinem Wohnbereich im Grunewald hatte er, genervt von lärmenden Kindern, nach denen erfolgreich mit Kieselsteinen geworfen. In einem Bericht der „Berliner Zeitung“ hieß es, mit Steinen nach Kindern zu werfen sei in Berlin durchaus üblich. Aber nicht im Grunewald!

„Zuuuurücktreten“, heißt es ohne den Zusatz bitte oft auf den U- und S-Bahnen vor Abfahrt des Zuges. In der inzwischen eingestellten Zeitung „Die Woche“ schrieb eine Autorin, auf diese Weise werde der Reisende „sprachlich füsiliert.“ Mit einem lauten Knall wird nach der scharfen Ansage die Waggontür geschlossen – das ist der akustische Genickschuss. Die Vermeidung von bitte ist nicht auf den Osten beschränkt. Am 31. Juli wurden in dem angeblich feinen Stadtteil Zehlendorf die Fahrgäste in die Züge getrieben: „Zuuurücktreten!“

„Der Osten liest zu wenig Zeitung“, meldete die „Berliner Zeitung“ und berichtete über eine Studie. Gemeint waren wohl die Ostler. Achtzig Prozent der Sachsen, Thüringer und Anhaltiner lesen eine Zeitung. In Ostberlin sind die Bewohner uninformierter – hier sind es 71 Prozent.

Berlin sei eine Stadt, „die frisst“, schreibt der Schriftsteller Benjamin Lebert. Er verließ Berlin wieder in Richtung Freiburg/Breisgau. Gegenüber dem „Tagsspiegel“ sagte der Jung-Autor: „Ich hatte in Berlin meine erste eigene Wohnung. Ich habe gedacht, wenn ich von zu Hause ausziehe, dann am besten gleich in eine andere Stadt. Ich war davor mit meinem Roman ‚Crazy‘ durch einige Länder gereist. War zwei Monate lang in New York gewesen – und alle zog es gerade nach Berlin. Ich bin in eine WG nach Prenzlauer Berg gezogen zu einer jungen Studentin, die sehr partymäßig unterwegs war. Sie hat mich überallhin mitgenommen, sie und ihre Freunde haben sehr geglitzert. Ich habe mich nicht so gefühlt. Dann bin ich nach Charlottenburg gezogen, was schon der erste Schritt weg aus Berlin war.“

Benjamin Lebert liebt und bevorzugt als Lebensstil die Einsamkeit. „In Berlin kannst du einsam sein, aber du erlebst dieses Gefühl, weil du den Kudamm entlang läufst und dir 20 Millionen Menschen entgegenkommen, die dich nicht kennen. Wenn du im Schwarzwald spazieren gehst oder in Freiburg auf dem Rathaus-Platz ein Eis isst – das ist eine ganz andere Einsamkeit.“

Die Hauptstadt mit der Bahn anzusteuern scheint sicherer als mit dem Auto. Es könnte passieren, dass der Besucher die Rückfahrt per Bahn antreten müsste. „Der Tagesspiegel“ im August: „Die Räuber kamen aus dem Dunkel der Nacht: Als Holger S. Sonntagnacht gegen 23.30 Uhr an der Luxemburger Straße in Wedding aus seinem Auto stieg, standen sie plötzlich vor ihm. Rund 1,90 Meter groß, kräftig und bewaffnet. Einer schlug dem 41-jährigen Berlin-Besucher aus Mecklenburg-Vorpommern die Faust ins Gesicht, dann drohte er mit einer Pistole, nahm Holger S. die Zündschlüssel für seinen eben geparkten grauen Astra ab. Hilflos musste der Mann zusehen, wie sich die Täter in den Wagen mit dem Demminer Kennzeichen DM-BD 339 setzten und davon fuhren.“ Allein im August gab es in Berlin drei Fälle von „Car-Napping“.

Viele Berliner gelten als tierlieb. Ihre häuslichen Mitbewohner wollen etliche Halter dem Stress während der Urlaubsreise nicht aussetzen, deshalb setzen sie ihre Tiere aus. In den Sommerferien 2003 waren es 1.615 Haustiere, im Sommer zuvor 1.543.

Straßennamen gibt es in Berlin oft mehrfach. Karl Marx ist auf zwei Straßen in Ost und West verewigt. In Ostberlin ist es die Karl-Marx-Allee, die früher Stalin-Allee hieß. Hier wurde ein Stück stalinistisches Moskau Stein auf Stein gebaut. Angeblich für verdiente Arbeiter. Als Stalin als Schlächter entlarvt war, wurde über Nacht aus der nach ihm benannten Allee die des Karl Marx. Ihr folgt die Frankfurter Allee, die nach Frankfurt/Oder führt. Moskau im Osten, die New Yorker Bronx im Westen, hier gibt es im Stadtteil Neukölln die Karl-Marx-Straße. Selbst in der heißesten Phase des kalten Krieges behielt sie ihren Namen. Die Gegend um die Karl-Marx-Straße wird mit „sozialer Brennpunkt“ umschrieben, was heißt: Hohe Arbeitslosigkeit, soziales Elend, starke Kleinkriminalität, Verfall der Bauten – die Bronx.

Mit Hertha BSC hat Berlin einen der ältesten Erstligavereine. Die alte Tante Hertha ist 111 Jahre alt. Was sie auszeichnet ist nicht etwa die Spielweise, aber Hertha hat als einziger Bundesligist eine Stiftung ins Leben gerufen. Diese Einrichtung spendet Geld für die Renovierung und den Aufbau von Sportplätzen für kleine Vereine an der Oder, im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Polen. Alle Achtung. In Berlin existiert aber auch der älteste Fußballverein – Germania 88 wurde im Dreikaiserjahr 1888 als reiner Fußballclub gegründet. Wichtig ist die Formulierung, ältester reiner deutscher Fußballclub. Andere ältere Vereine betrieben verschiedene Sportarten. Als die Männer des 1. FC Nürnberg noch Rugby spielten und den Ball über die Latte bugsierten, kickten die Germanen schon. Also 115 Jahre immer nur Fußball, aber nicht so erfolgreich wie Nürnberg. Germania 88 ist derzeit fünftklassig.

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