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Berliner NotizenBerliner NotizenBerliner NotizenOktober 2005
Berliner Freiheit Oktober. „Jetzt halten Sie mal den Mund!“ und „Lecken Sie mich!“, so reagierte der BVG-Tramfahrer Mario H. auf die Beschwerde zweier Frauen, die von ihm gegen ihren Willen eine Haltestelle weitergefahren wurden. Mehrere Fahr“gäste“ hatten in der Linie 61 vor der Haltestelle Köllnischer Platz auf den Halteknopf gedrückt. Einige waren ausgestiegen, eine sehbehinderte Frau stand auf den Stufen, ihr Begleiter streckte ihr von außen die Hände entgegen, plötzlich schloss sich die Tür. Die Frau hinter ihr drückte sofort auf den Türöffner, die Sehbehinderte betätigte dann den anderen Knopf, von außen wollte der Begleiter die Tür öffnen. Über die Sprechanlage versuchten die Frauen Kontakt zum Fahrer herzustellen. Gegen ihren Willen wurden sie weitergefahren zur Haltestelle S-Bahnhof Spindlersfeld. Als sie Mario H. zur Rede stellten, wurden sie von dem Rambo beschimpft. Die Strafanzeige wegen Freiheitsberaubung und Beleidigung wurde eingestellt. Staatsanwältin Dr. Weber argumentierte, die Freiheitsberaubung habe nur wenige Minuten gedauert und „die möglicherweise gewechselten harschen Worte“ „rühren aus der emotionalen Stimmung“. Kommentar einer Betroffenen: „Damit stellt die Justiz den Fahrern einen Freibrief aus, Fahrgäste gegen ihren Willen durch Berlin zu kutschieren.“ Eine Entschuldigung der BVG erfolgte nicht. Warnung an Touristen: Lässt Sie die BVG nicht an der Haltestelle aussteigen, wo Sie es wollen, nicht aufmucken. Still die Bahn dort fluchtartig verlassen, wo der Fahrer sie anhält! Sonst werden Sie übel beschimpft. Das Maß der Freiheitsberaubung wird von der Berliner Staatsanwaltschaft sehr gedehnt ausgelegt. Keine Hilfe bei der Justiz suchen! Zahlen und schweigen – das ist Berliner Freiheit.
Zwei-Euro-Job Oktober. In der Fasanenstraße richte ich das Objektiv meiner Kamera auf das Literaturhaus. Es ist schwer, davon ein Foto zu machen: Die Sonne scheint schräg von vorn, Sandhügel von Bauarbeiten im Vorgarten des Hauses verhässlichen die Idylle. Von rechts spricht mich ein Asiate englisch an.
Heuschrecken in der Metropole Oktober. Der „Berliner Kurier“ brachte ein Porträtfoto auf dem Kopf gestellt. Es war das Bild des Nordiren David Montgomery, der mit dem Spitznamen „Rommel“ versehen wurde. Auch wenn er sich auf den Kopf stelle, so behaupteten die Blattmacher, den Berliner Verlag und ihre Zeitungen bekomme er nicht in die Hände. Für eine internationale Investorengruppe wollte der als Journalistenentlasser auf der britischen Insel bekannte Montgomery den Verlag kaufen. Die „Heuschrecken“ setzten erstmals zum Flug auf ein deutsches Medienhaus an. In der letzten Oktoberwoche waren die Heuschrecken im Hause. Wer das Berliner Verlagshaus betrat, wurde bei der Begrüßung gefragt, ob er kondolieren wolle. In dem Unternehmen werden die „Berliner Zeitung“ und der „Kurier“ verlegt, dazu noch „tip“ und diverse Blättchen. Das Gebäude im gehobenen Plattenbausystem der DDR ragt an der Karl-Liebknecht-Straße in den Himmel. Daneben gab es einst das Ostberliner Pressecafé, von dem viele Hauptstadtbewohner wussten, es war ein Stasitreff. Über Jahrzehnte gehörten „Berliner Zeitung“ und „Kurier“ der SED, Bezirk Berlin. Die Blätter waren die Schalmeien des Sozialismus, die Trompete war „Neues Deutschland“, zwei S-Bahnstationen weiter gelegen. Nach dem schmählichen Zusammenbruch der DDR geriet der Verlag in die Hände von Gruner & Jahr, später in die der unionsnahen Verleger Holtzbrinck aus dem Schwäbischen. Die Blätter des Berliner Verlages blieben in ihren Intentionen Ostzeitungen: Merkel wurde geradezu hochgeschrieben, eine gewisse Ablehnung des westlichen Lebensstils ließ sich zwischen den Zeilen lesen. Als nun die Heuschrecken um das Verlagshaus schwirrten, wehrten sich die Belegschaften mit mutigen Artikeln gegen David Montgomery. Eine Redakteurin des Hauses beschrieb ihn im „Presseclub“ der ARD als einen Mann, der noch keine Zeitung hoch gebracht habe, nur ein Christenblatt in Nordirland habe er subventioniert. Zu lesen ist auch in der „Berliner Zeitung“, die internationale Investorengruppe erwarte jährlich 12 Prozent Rendite. Die Heuschreckenpolitik, ausschlachten und weiterverkaufen, ist im Mediengewerbe unüblich. Im Berliner Verlagshaus rechnen die Beschäftigten damit, dass David Montgomery ein halbes Jahr lang nicht angreift, dann aber durchgreift und Personal abbaut, was für eine Qualitätszeitung Leichengift ist. Pikanterie der Geschichte: Als Franz Müntefering von den kapitalistischen Heuschreckenschwärmen sprach, höhnten die Blattmacher, das sage er nur, um die Wahl in Nordrhein-Westfalen nicht zu verlieren.
„Hier ist Deutschland“ Oktober. Ein Hauch von Servicementalität der DDR weht den Kunden bei der Post in der Filiale an der Bölschestraße im Stadtteil Friedrichshagen gelegentlich an. Ich lege einer drallen Frau einige als Büchersendungen deklarierte gefüllte Briefumschläge auf die Verkaufstheke. Sie will sie einzeln wiegen. Bei Büchersendungen sei der Preis gleich, wage ich zu sagen. Sie bricht ihre sinnlose Tätigkeit ab. Danach trage ich vor, ein Brief gehe nach Italien. „Sind da die Gebühren wegen der EU nicht gleich?“ Mich trifft ein kalter Blick. Höhnisch werde ich verhört: „Noch nie in das Buch mit den Gebühren geschaut?“ Wie bei richtigen Verhören ist es ratsam, nicht zu antworten. Ich ändere die Gesprächsrichtung und gebe Widerworte, Briefe in Länder der EU seien gleich teuer. Sie knallt ihre fleischige Hand auf das uns trennende Thekenholz, weist mit der anderen darauf und belehrt mich wie einen Klippschüler, „das hier ist Deutschland, und drum herum, das ist Ausland. Alles Ausland.“ Aus ihrer Sicht werde ich mit einer Frage frech: „Was kostet ein Brief nach Frankreich, was kostet einer in den benachbarten Stadtteil Rahnsdorf.“ Patzig, wohl weil überführt: „55 Cent.“ Nun setze ich nach: „Das ist deshalb gleich, weil das in der EU so ist.“ Wortlos zählt sie mir das Wechselgeld auf die Verkaufstheke, schiebt muffelig die Quittung herüber und sagt grob wahrheitswidrig: „Auf Wiedersehen.“
Tor des Ostens Oktober. Wie in Tokio drängeln in Berlin-Marzahn die Menschenmassen aus der S-Bahn. Der Bereich Marzahn ist ein Plattenbauviertel aus der DDR mit gigantischen Ausmaßen, kein mit Sehenswürdigkeiten lockender Anziehungspunkt. Die Massen drängeln zu dem Eingang eines futuristischen Gebäudes: EASTGATE - Tor zum Osten. Das wurde zum Monatsanfang eröffnet. In dem modernen Bau befindet sich ein Kaufcenter nach dem üblichen System wie in Schwerin über Neubrandenburg bis zum Potsdamer Platz: Filialen, Filialen, Filialen. Der S-Bahnhof hat zwei Ausgänge. Einer ist noch gestaltet wie in der untergegangenen DDR: Lebensfeindliche lange Gänge, Scheiben sind zerschlagen, der Wind pfeift durch die Aufgänge, die Eisenträger sind verrostet, ein Treppenaufgang ist verfallen.
Drei Engel Oktober. Am Alexanderplatz fotografiere ich das Hochhaus des Berliner Verlages. Ich stehe auf der obersten Treppe einer Unterführung. Die verläuft an einer breiten Kreuzung unter der Karl-Liebknecht-Straße. Hinter mir tauchen drei Frauen auf, die sehr gut drauf sind. Wohl weil sie mich für einen Touristen halten, ruft eine freundlich: „Was knipst du denn in den Himmel.“ Ihre beiden Begleiterinnen lachen mir aufmunternd zu. „Der liebe Gott lässt sich nicht fotografieren“, so meine Antwort. Sie juchzen wie drei Engel. In Berlin geduzt zu werden ist keine Ausnahme. Meist wird die Anrede benutzt, wenn jemand heruntergeputzt werden soll. Die Drei verschwinden in der Unterführung. Die Gänge sind ostalgisch: Noch DDR pur; menschenfeindlich angelegt, zu dunkel, baulich kritikwürdig ausgeführt, jeder Fußgänger läuft schneller, um bald wieder ans Tageslicht zu kommen. Ich sehe die Frauen unten nach links abbiegen und rufe ihnen nach: „Eigentlich wollte ich auch die Engel fotografieren.“ Sie bleiben wie auf ein Kommando stehen. Fröhlich lärmend kommen sie zurück, bauen sich als Gruppe auf, lassen sich fotografieren. „Zeig mal“, ruft eine Blonde. Sie schaut auf das Display der Kamera und befindet: „Eigentlich zu dunkel.“ Eine fragt: „Wo kommst du denn her?“ Wahrheitsgemäß antworte ich: „Aus Berlin.“ Das sei gut, sagt die links von mir stehende junge Frau und legt ihre Hand auf meine Schulter. „Mutter und beide Töchter“, ruft die aus der Mitte. „Sind nicht alle Engel blond und tragen lange weiße Gewänder?“ Die drei modisch gekleideten Frauen entschwinden, als huschten sie fort.
Am feineren Ende Oktober. Es werden helle Planen über Holzgerippe gespannt. Damit nicht der Eindruck entsteht, es werde ein Bierzelt gebaut, steht auf Schildern „Champagnertreff“. Hinter dem Aufbau liegt ein Lokal. Kurz vor dem Olivaer Platz gibt es auf knapp einem Kilometer die teuerste Meile des Kurfürstendamms, in Berlin nur Kudamm genannt. Seit gut einem Jahr hat sich der Bereich in der Ansammlung von Läden verändert. War es bis dahin eine eher unattraktive Strecke mit wenigen Geschäften, Anwaltskanzleien und einem Edelrestaurant, reiht sich nun ein Luxusladen an den anderen. Die lokalen Blätter feiern die Veränderung dieses Kilometers Kudamm als Gewinn für Berlin. Es wird berichtet, die Reichen aus Europa flögen die Hauptstadt oft nur wegen der Einkäufe in diesem Bereich der Straße an. Der erste Eindruck ist: Wenig Laufkundschaft, die Verkäuferinnen scheinen sich zu langweilen. Die weiten Läden sind meist kundenfrei, hier bringt es nicht die Masse. In wenigen Schaufenstern sind Preisschilder zu entdecken. So mancher gedrungene Mann im Anzug, aus dessen Kragen ein Drähtchen ins Ohr führt, hört keine Musik. Vor anderen Geschäften stehen die Sicherheitsleute völlig ungetarnt an der Tür. Die Strecke ist schnell durchschritten. Sie ist erheblich kürzer als eine Meile, wird aber mit diesem Maß beschrieben. Abrupt endet sie an einer Einbuchtung, in der es eine Würstchenbraterei gibt, die rund um die Uhr geöffnet ist. Als in der letzten Oktoberwoche nach einer Sause in einem teuren Restaurant der Sänger Gunter Gabriel mit Freunden und dem Kellner des Lokals noch ein Würstchen aß, servierte der Servierer ihm ein Feilchen. Der Kellner sei plötzlich ausgerastet und habe zugeschlagen. Die Boulevardpresse brachte Fotos des Barden mit dem blauen Flecken unter dem Auge. Der Sänger verzichtete auf eine Anzeige. War auch besser so. Staatsanwältin Dr. Weber hätte vielleicht argumentiert: Das Verfahren wird eingestellt, der Kellner habe ja nur einmal zugeschlagen.
Zitate „Für mich ist Berlin zurzeit die aufregendste Stadt Europas.“
„Der Koreaner schwimmt im Glück, taz, Ausgabe Berlin, 20. Oktober 2005
In der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sind auch Autorinnen und Schriftsteller organisiert. Vielleicht deshalb haben die Sitzungssäle Namen bekannter Poetinnen und Autoren: Anna Seghers oder Bertolt Brecht zum Beispiel. Die lebten in Berlin. Der Rheinländer Heinrich Böll scheint an der Spree weniger bekannt zu sein. Auf dem Einladungsbrief der Gewerkschaft zu einer Tagung der Fachgruppe 3 stand als Treffpunkt der „Heinrich-Boll-Saal.“ Nicht Bolle, was in Berlin verständlich gewesen wäre. Aber der war nicht gemeint.
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