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April 2006

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„Ist der Bahnhof klein“

April. Der ICE Richtung Ostbahnhof surrt durch die Baustelle des Hauptbahnhofes von Berlin. Eine junge Frau schaut aus dem Zugfenster in die Bauhalle und ruft triumphierend: „Ist der Bahnhof klein.“ Sie setzt nach: „Da ist unser in Frankfurt am Main aber größer.“ Entgegen der Berliner Art wirkt der neue Bahnhof bei Unkundigen zwar modern, aber in der Größe mäßig bis bescheiden. Anders als in vielen anderen Städten liegt ihm auch nicht ein Platz mit alten und feinen Hotels gegenüber. Wer Berlin ab 28. Mai über den Hauptbahnhof erreicht, schaut vor der Halle auf eine riesige freie Fläche, eher eine Brache, an ihren Rändern stehen Sozialbauten von Moabit. Um den Hauptbahnhof an dieser Stelle bauen zu können, wurde der Verlauf der Spree aufwändig verlegt. Erst wenn er betriebsbereit ist, werden Busbahnhöfe gebaut. Die erste Tram soll 2009 vom Vorplatz fahren. Mit einem Fußmarsch von knapp zehn Minuten ist das Kanzleramt zu erreichen, aber wenige Anreisende wollen dort hinein, zumal davon auszugehen ist, dass die Templiner Pastorentochter dieses verbissen verteidigen wird. Eine lichte Halle wölbt sich über dem Hauptbahnhof, dem einstigen Lehrter Stadtbahnhof. Als Berlin geteilt war, war dort der letzte Halt der S-Bahn im Westen oder der erste aus Richtung Osten. Vor dem Mauerbau wussten die Flüchtlinge an dieser Station beim Anblick britischer Soldaten, sie hatten ihr Ziel Westberlin erreicht. Der neue zentrale Hauptbahnhof erstreckt sich über vier Etagen – in die Erde. Es sind 35 Meter bis in die Sohle, was die Höhe eines Hauses mit zehn Stockwerken wäre. Im untersten Bereich sind acht Gleise für Züge. Nach Auskunft von Bauarbeitern sehen die ICE dort unten bei dem Blick von oben klein wie Spielzeugeisenbahnen aus.

Hauptbahnhof

Über drei Etagen verteilen sich 80 Restaurants und Geschäfte. Zwei Etagen sind Garagen. Die Arbeit laufe ab wie ein Uhrwerk, erzählt ein Elektriker. „Und es hagelt Vertragsstrafen, wenn auch nur einer der Unternehmer zeitlich überzieht.“ Die Baustelle dürfen Fremde nicht betreten. Ein Beschäftigter schoss nach Feierabend unerlaubt einige Fotos davon. In der domhohen Halle nahe der Spree halten nur S-Bahnen und wenige Fernzüge. Sie enden oder starten wie bisher im Ostbahnhof Richtung Ruhrgebiet oder zurück, der Bahnhof Zoo soll nur noch Haltepunkt für den Regionalverkehr sein. Die Strecken von Norden in den Süden oder umgekehrt werden im vierten Untergeschoss befahren. Ein Bauarbeiter schwärmt: „Die ersten Testfahrten mit einem ICE haben gezeigt, das ist alles technisch derart perfekt, da kann es praktisch keinen Unfall geben. Es sei denn, jemand stürzt sich überraschend vor einen Zug.“

Hauptbahnhof

„Gesamtdeutscher Meister“

April. „Die Eisbären Berlin wurden zum zweiten Mal hintereinander gesamtdeutscher Meister“, sagte Eva Hermann in der „Tagesschau“ Wie das? Die Eisbären hießen früher Dynamo Berlin. Es gab in der DDR nur noch einen zweiten Eishockeyclub: Dynamo Weißwasser. Diese beiden Mannschaften spielten in einer längeren Saison jeweils die „Meisterschaft“ aus, meist errangen den Titel Meister der DDR die Cracks vom Stasiclub Dynamo Berlin. Da es erfreulicherweise die DDR nicht mehr gibt, konnten sie nicht „gesamtdeutscher“ Meister werden, Deutscher Meister sind sie nun zwei Mal hintereinander geworden. Ihr Endspielgegner waren die Metro-Stars aus der Modestadt Düsseldorf. Noch in der Gegenwart spielen die Männer des einstigen Clubs aus dem Staat der Arbeiter und Bauern in dem so genannten Wellblechpalast der früheren Dynamo-Sportanlage im Stadtteil Höhenschönhausen. Dort stand auch das Gefängnis der Staatsicherheit. Anders als der zehnfache Fußballmeister der DDR, Dynamo Berlin, sind die Männer auf dem Eis wegen der Vergangenheit des Vereins nicht so verhasst. Eingefleischte Anhänger von Union Berlin, die meist nur mit gefletschten Zähnen von Dynamo Berlin als Fußballclub reden, saßen bei den Endspielen im Eishockey wie im Fieber vor der Glotze. Die Eisbären pflegen so manche sich geschunden fühlende Ossiseele. Deshalb schrieb der „Tagesspiegel“: „Wieder sind die Berliner Eishockeymeister – und bei ihren Auftritten ist immer eine gehörige Portion Ostalgie im Spiel.“ Der „gesamtdeutsche“ Meister ist in Gesamtberlin noch nicht angekommen. Der „Tagesspiegel“: „Als die Meisterschaft nur noch wenige Sekunden entfernt liegt, schwellen die Rufe der Fans zum mächtigen Schlusschor an: ‚Dynamo, Dynamo, Dynamo‘ brüllten 5.000 Kehlen im überfüllten Sportforum Hohenschönhausen.“ Einige Zeilen weiter: „Und während die Spieler und Trainer des EHC ihre Titelverteidigung in der Gegenwart feiern, schwelgen die Fans in der Vergangenheit.“ Die marode Spielstätte werden die Eisbären bald verlassen. Ein Investor baut eine moderne Sporthalle, in der könnte der „gesamtdeutsche“ Meister vor maximal 16.000 Zuschauern spielen. Nach dem Abschied von Hohenschönhausen kämpfen die Eisbären direkt am – Ostbahnhof.

Schlesisches Tor

Arbeiter, Ausländer, Angeber?

April. Die Frau schuf sich ihr Rimini: Vor einer Pizzeria steht ihr Tisch auf dem Bürgersteig wie in Rimini. Die Vorbeigehenden umkurven wie in Rimini nachsichtig und fröhlich die durch den Tisch aufgebaute Schikane. Direkt davor knattern Presslufthämmer wie in Rimini. Die Frau sonnt sich wie in Rimini. Die Sonne scheint aber nicht so intensiv wie in Rimini, denn es ist der Kiez nahe dem Bahnhof Schlesisches Tor in Kreuzberg. Sie sitzt nahe am Wasser wie in Rimini, aber es ist die Spree. Und die verfallenen Hausfassaden ihr gegenüber gibt es in Rimini so nicht. Das Gebiet um den Bahnhof war zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts eine Wohngegend der Industriearbeiter, die aus Schlesien kamen und hier ihr Glück suchten. So genannte Mietskasernen prägen das Bild. Viele Straßen gleichen Schluchten, wo die Sonne nur zu ihrem Hochstand hineinscheint. Barbara John, Berlins Ausländerbeauftragte von 1981 bis 2003, ging in dem Gebiet nahe dem Landwehrkanal zur Schule und weiß: „Ende der sechziger Jahre zogen die Menschen weg von hier in die Neubaugebiete. Die Gropiusstadt lockte. Die Häuser um den S-Bahnhof Schlesisches Tor drohten durch Leerstand zu verkommen. Deshalb gab es auch Hausbesetzungen. Es kamen die Migranten, die preiswerten Wohnraum suchten, sie verhinderten den totalen Verfall. Sonst hätte man dort viele Häuser abreißen müssen wie jetzt in Schwedt.“ Den Arbeitern folgten die Ausländer. Sie prägen mit kleinen Geschäften, Bäckereien und Cafés den Kiez. Jahrzehnte war das Gebiet um den Bahnhof Schlesisches Tor von drei Seiten ummauert: Rechts und links der „antiimperialistische Schutzwall“ und vorn die Spree, auf deren anderem Ufer die Mauer von Ostberlin zu sehen war. Einen Grenzübergang nach Kreuzberg gab es nur für Fußgänger. Wiederholt rief der regionale Sender rbb in seiner Abendschau die Gegend entlang der Schlesischen Straße zu einer Szenegegend aus. Doch bisher folgten den Arbeitern und Ausländern noch nicht die Angeber. Für ein ehemaliges Industriegebäude am Ufer der Spree findet sich kein Großinvestor, obwohl doch sonst ausgebaute Wohnungen mit Blick auf den Fluss zum Wohnluxus gehören – aber nicht hier. Wer den Bahnhof verlässt, wird oft angesprochen, ob er seine Fahrkarte zur Weiternutzung gäbe. Es wurden viele Lokale eröffnet, ebenso die ersten Galerien, Cafés dominieren, Gäste platzieren ihre Stühle und Tische an sonnigen Tagen auf den Bürgersteig. Wer gern in Zeitschriften blättert, findet in den Kaffeehäusern ein beachtliches Angebot. Beim Inder „Amar“ in der Schlesischen Straße 9 stellen Studierende den größten Teil der Besucher. Die Mittagskarte enthält preiswerte Angebote. Einige Gäste kommen mit dem Fahrrad. Durch die großen Fenster des „Amar“ lässt sich die Szene gut und entspannend beobachten. Gegenüber dem indischen Restaurant nennt sich zu Unrecht ein Café „tristesse“.

 

Warnung vor „Freunden“

April. „Die Welt zu Gast bei Freunden in Berlin“, heißt es auf vielen Plakatwänden. Die Verantwortlichen der Fußballweltmeisterschaft werben in der Hauptstadt. Ende April warnte die Liga für Menschenrechte, Farbige sollten möglichst den Ostteil der Stadt meiden. Früher war das die Hauptstadt der DDR. Als besondere Gefahrenpunkte für Menschen mit anderer Hautfarbe machten die Menschenrechtler die Werner-Seelenbinder-Straße in Köpenick aus, denn hier ist die Zentrale der NPD angesiedelt, sowie den Bahnhof Lichtenberg und das Plattenbaugebiet Marzahn-Hellersdorf.

 

In der Zentrale der Kämpfer

April. Es ist gegen 18 Uhr. An der Stirnwand der Zentrale von ver.di am Ufer der Spree wird für den Mindestlohn geworben. Es ist Streikzeit im öffentlichen Dienst. Doch davon ist nichts wahrzunehmen. Geduldig sitzen zwei türkischstämmige Angler vor dem Haus und blicken auf das dunkle Wasser des Flusses. Kreuzberg liegt nur wenige hundert Meter entfernt. Schon vor 18 Uhr ist die Buchhandlung im Gewerkschaftshaus geschlossen. Gelegentlich kommt ein Angestellter aus der Zentrale und telefoniert gespreizt auf der Straße, jeweils ein Entscheidungsträger! Die riesige Vorhalle des Hauses ist leer. Der Pförtner weist nach hinten in einen Raum, in dem über Migration diskutiert werden soll. Links in einem Gang zu den Toiletten stehen eingerollt Transparente. Der rote Text auf dem weißen Tuch ist deshalb nicht zu entschlüsseln. Eine junge Mitarbeiterin staunt: „Die Flure sind in dieser Woche fast wie ausgestorben.“ Es sind noch Osterferien und die Kämpfer mit Kindern nutzen sie. Bekanntlich soll im Zentrum eine Taifuns Ruhe herrschen. Auf dem Weg zum Vortragssaal sehe ich Unterschriftenlisten für eine Forderung. Ich lese sie nicht, als gestandener Gewerkschafter unterschreibe ich. Es kann nichts Falsches verlangt werden. Die Referentin des Abends findet kurz vor 18 Uhr wenige Interessierte vor und sagt amüsiert, „da kann ich ja jeden mit Handschlag begrüßen.“ Sie setzt das auch um. Im Hof des Hauses steht ein Transport-Oldtimer, auf dessen Planen unübersehbar „ver.di“ zu lesen ist. Würde er durch die Stadt gefahren, mit Sicherheit fiele das Gefährt auf. Ich beobachte, dass einige Angestellte wohl länger im Büro waren, denn in der Nähe des Lastwagens steigen sie auf ihre Fahrräder. Entgegen den Befürchtungen kommen kurz nach 18 Uhr doch noch mehr Interessierte. Die Diskussionsveranstaltung ist für die Zeit nach Feierabend angesetzt. Wer hier sitzt, hat bisher oben im Hause gearbeitet. Die Diskussion ist sehr lebhaft. Nach zwei Stunden verlasse ich die Kampfzentrale. Zwei Pförtner unterhalten sich. Es wird leicht dämmerig. Die Angler sind fort. Wahrscheinlich beißen Fische nur bei Tageslicht. Ich blicke zurück, in kaum einem Büro brennt noch Licht.

 

Müde Berliner

April. Wollen Anhänger des Köpenicker Vereins Union Berlin sich öffentlich-rechtlich per Videotext über aktuelle Spielergebnisse informieren, müssen sie Geduld aufbringen. Oft finden sie Stunden nach dem Abpfiff in der Oberliga Nordost bei dem in Berlin/Potsdam stationierten Sender rbb auf dessen Videotext 226 nichts. Findige Fans schalten kurz nach dem Schlusspfiff auf den Sender MDR, schauen dort im Videotext 249 und sind über das Ergebnis informiert.

 

Am Bahnhof Friedrichstraße

April. Vor 60 Jahren, am 21. Und 22. April 1946, wurden im Berliner Admiralspalast auf Druck der Sowjets die KPD und die SPD zwangsvereinigt zur SED. Angesichts der Geschichte beider Parteien hätte vorher die Umbenennung des Admiralspalastes in Matrosensaal nahe gelegen. Das Gebäude liegt dem Bahnhof Friedrichstraße gegenüber. Zurzeit ist es von Planen umhüllt. Nicht wegen der Scham über das Ereignis, es wird mit Transfergeldern saniert. Es heißt, nach der Vereinigung hätten der Kommunist Wilhelm Pieck und der Sozialdemokrat Otto Grotewohl im Lokal „Borchardt“ gegessen. Das ist ein Edelschuppen, in dem an den Abenden oft Abgeordnete zu sehen sind, die sich von Lobbyisten aushalten lassen. Bert Brecht übernahm etwa hundert Meter vom Bahnhofsgebäude entfernt das Theater am Schiffbauerdamm. Er glaubte zunächst, hier etabliere sich ein neues, besseres Deutschland. Vor dem Theater mündet die Panke in die Spree. Der Bahnhof Friedrichstraße wurde im Laufe der Jahre Grenzstation zwischen Ost- und Westberlin. Die Grenzkontrollen waren in einer DDR-typisch gebauten hässlichen Halle untergebracht. Weil wegen der Trennungen von Familien und Abschiede von Menschen, die den Staat der Arbeiter und Bauern verließen, hier viele Tränen flossen, bekam das Gebäude inzwischen den Namen Tränenpalast. Der Tränenpalast ist ein politischer Amüsierbetrieb geworden, weil Kabarettisten darin eine Bühne haben. Bis 1989  machte hier niemand Späße. Enge Gänge führten aus Ostberlin oder in die Stadt hinein. Als ich einmal einreiste, wurde mein Name ausgerufen. Ich musste in ein nach Reinigungsmitteln aus der DDR riechendes schmales Büro. Der Grund: In meinem Pass befand sich ein Visum der Volksrepublik Albanien. Ein junger Offizier der „Grenztruppen“ druckste herum, „die Genossen sind aber nicht auf dem richtigen politischen Weg.“ Überrascht antwortete ich: „Die von der DDR aber auch nicht.“ Der Mann erhob sich brüsk und gab den Aufenthalt in der Hauptstadt der DDR für einen Tag frei. Inzwischen ist das Innere des Bahnhofes saniert. Im unteren Bereich gibt es Cafés, Laden- und Imbissketten. Das Bundespresseamt liegt in der Nähe. Gegenüber dem Bahnhof Friedrichstraße treffen sich gern Zwangsberliner in dem Lokal „Ständige Vertretung.“ Die dort in rheinischer Fröhlichkeit „Kölsch“ trinken, sind nicht gegen die Vereinigung, aber dagegen, dass Berlin Regierungssitz wurde; Bonn wäre ihnen lieber gewesen. Auch die Armut hat sich um den ehemaligen Grenzbahnhof angesiedelt, viele Bettler hocken auf den Bürgersteigen und hoffen auf Gaben von den Touristen.

Tränenpalast

Insbesondere Mitglieder der ehemaligen SED behaupten, es habe vor 60 Jahren keinen Zwang zur Parteienvereinigung gegeben. Am 23. Januar 1946 kam von der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) ein schriftlicher Hinweis an Wilhelm Pieck: „Vereinigung der beiden Arbeiterparteien beeilen, zweckmäßig noch vor den Wahlen Ende Mai ... Programm in Moskau entschieden. Sorgfältige Taktik – Scharfe Kampagne gegen Rechte, Entlarvung, Isolieren, Taktik des Angriffs ausarbeiten.“ 

 

Aufgalopp der Sozialdemokraten

April. Auch in der einstigen Arbeiterpartei SPD wird das akademische Viertel praktiziert. Veranstaltungen beginnen selbst bei denen meistens fünfzehn Minuten später als ausgedruckt. Die Sozialdemokraten trafen sich zu weiteren Diskussionen über ihr Grundsatzprogramm in Berlin. Jene „akademischen“ 15 Minuten nutzen die Größen der Partei zum Aufgalopp. Drei schwarze Regierungskaleschen fahren am Haupttor des bcc am Alexanderplatz vor. Zwei Wagen haben Blaulicht auf den Dächern. Aus dem mittleren Auto steigt Peer Steinbrück, dreht sich um die Achse, als wolle er sich von allen Seiten betrachten lassen. Es brandet kein Beifall auf. Er ist Gewinner nach seiner Wahlniederlage im Mai 2005 geworden, denn ein Ministerpräsident aus Düsseldorf fährt nicht in einer Kolonne vor. Die Halle wurde zwischen 1961 bis 1964 gebaut und erlitt laut Prospekt bis Ende der 90er Jahre einen technischen und moralischen Verschleiß. Was ein „moralischer“ ist, bleibt ungeschrieben. Oben im Kongresssaal schreitet wahrscheinlich von spanischer Sonne gebräunt Werner Sonne von der ARD durch die Reihen, als sei auch er ein wichtiger Politiker. Andrea Nahles steht vorn an der Rampe und versendet wie Angela Merkel SMS; wichtige Frauen sind immer im Einsatz. Der gedeckt gekleidete Sauerländer Franz Müntefering ist aufgedreht wie ein Rheinländer. Neben ihm steht mutlos und griesgrämig Reinhard Klimmt, Ex-Ministerpräsident, Ex-Bundesminister, Anhänger des 1. FC Saarbrücken, der am Vortag verlor. Frank-Walter Steinmeier ist einer der wenigen Politiker, der real besser aussieht als im Fernsehen. Vom Körperumfang nähert er sich seinem Amtsvorgänger. Michael Sommer bringt sich im April in Szene. Als Gewerkschaftsredner steht aber Klaus Wiesehügel von der IG BAU auf dem Programm. Hubertus Heil drängt sich entgegen seinem Naturell nicht in den Vordergrund. Mit akademischer Verspätung erreicht der gelernte Handwerker Kurt Beck die Versammelten. In anderer Kleidung könnte er glaubhaft den Mainzer Kardinal Lehmann vertreten. Das sozialdemokratische Urgestein Erhard Eppler sitzt eher unauffällig am Rande. Als Schwabe wie meist mit einem Rollkragenpulli. Er trägt keine Schlipse, vermutlich weil es so preiswerter ist.

Ottmar Schreiner beim Interview

Kurt Beck südwestdeutsches Idiom weicht akustisch die Sprache leicht auf. Er sagt statt Käseglocke Gäseklocke, und verteilt wird in seiner Region verdeild ausgesprochen. Er verspricht sich selten. Der Ministerpräsident des einstigen westdeutschen Schwellenlandes im Wirtschaftsbereich liest seinen Redetext nicht ab. Er sieht die Menschen an. Ein jeweils kurzer Blick auf das Manuskript genügt, er ist dann im Thema. Angela Merkel wird es bald merken, dass Matthias Platzeck aufgeben musste, denn er und sie liebten im Ausdruck das Ungefähre. Beck nicht. Für seine Rede bekommt er viel Zwischenbeifall. Nach ihm spricht das Heil der Partei mit Vornamen Hubertus. Viele suchen ihr Heil in der Flucht und verlassen den Saal. Auch Ottmar Schreiner, Saarländer und Wortradikalist. Er darf sogar einem Sender ein Interview geben. Am selben Tag heißt es in der „Süddeutschen Zeitung“: „Grundsatzprogramme heißen so, weil sie grundsätzlich keiner liest.“

 

Zitate

„Die Lücken zwischen den Häusern“.
Samuel Beckett auf die Frage, was ihm an Berlin gefallen habe.

„Ich behaupte, Liebe auf den ersten Blick gibt’s im Fall von Berlin nicht. Berlin ist grottenhässlich, genau das macht es liebenswert.“
Christian Jenny, Tenor und Schauspieler

„Vom 15. Stock des Berliner Beisheim-Centers am Potsdamer Platz aus gesehen wirkt die Stadt einen Augenblick lang wie eine echte Weltmetropole.“
Kunstzeitschrift „monopol“

Der Journalist Hardy Worm (1896 – 1973) schreibt vor 85 Jahren, wann ein Berliner ein Glückspilz ist:
„Neulich sah ich einen Straßenbahnschaffner, der nicht eher das Signal zur Weiterfahrt gab, als bis sämtliche Fahrgäste den Wagen bestiegen haben.
Neulich wurde ich in einem Geschäft freundlich bedient.“

Warschauer Straße

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