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August 2006

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Aufgalopp im „Einstein“

Juli. Es ist kurz vor zwölf Uhr. Das Café Einstein Unter den Linden gilt Provinzlern als Ausflugsziel. In Familiengruppen sitzen Urlauber aus Pennewitz, Lunden oder Bildstock/Saar in Familienverbänden eng um die Tische herum. Viele scheinen Angst vor den selbstbewussten freundlichen Kellnerinnen zu haben. Verschüchtert und verstohlen schauen sie auf andere Gäste. Die Halbwüchsigen langweilen sich, der Vater ist betroffen von den Preisen, Mutter rechnet durch, was am Ende gezahlt wird. Eine unauffällig gekleidete hochgewachsene Frau geht sicheren Schrittes in den hinteren Bereich des Cafés. Wer glaubt, die Küchenhilfe trete zur Mittagszeit ihren Dienst an, irrt. Wem die Frau bekannt vorkommt, der irrt sich nicht. Karin Göring-Eckhardt, einst bei den Grünen eine der Fraktionsvorsitzenden, hat es bis zur Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestages gebracht. Wenige Minuten später huscht eine kleine schlanke Blondine in dieselbe Richtung. Entweder ist der flatternde schwarze Hosenanzug zu weit geraten oder die Frau hat abgenommen: Ursula von der Leyen kommt ohne Personenschutz oder Referenten ins Einstein. Hinten muss ein Treffen von Politikern sein. Nach ihr geht weniger schnell ein fast hagerer Mann an den Tischen vorbei. Die Provinzler erkennen ihn nicht. Der Mann ist auch deshalb wenig auffällig, weil er seine vom Fernsehen bekannte Fliege nicht trägt. Professor Karl Lauterbach müsste im rheinischen Singsang sprechen, um erkannt und bemerkt zu werden. Die meisten Gäste werden von einem Professor auch eine andere Vorstellung haben: Erheblich älter, wirres weißes Haupthaar, Brillenträger, sich suchend umschauend, um sein Ziel zu finden. Hinten im Einstein wird gekungelt. Wenige Minuten später gehen durch den vorderen Bereich des Cafés drei Personen in einer Formation wie die Enten meines Onkels Karl Krawietz aus Datteln/Westfalen, wenn sie am Abend den Auslauf beendeten und brav zurück in den Stall seines Koloniehauses watschelten. Der Anführer ist nicht besonders hoch gewachsen, er trägt einen Kartoffelbauch unter dem Hemd und grinst arrogant. Der wird von Touristen erkannt. Viele von ihnen stutzen, sie werden sich den Mann bedeutender vorgestellt haben: Peter Hahne vom ZDF spricht mit den anderen Personen seines Entenaufzugs zu laut, er will auffallen. Hinter ihm, gewissermaßen der Höhepunkt der Dreiergruppe, eine Frau von vielleicht 1.80, die eine Sekretärin des Hauses sein könnte. Dritter ist Ulf Röller vom selben Sender, der wie Hahne immer dann abwiegelnd aus dem „Hauptstadtstudio“ berichtet, wenn Angela Merkel oder ihre CDU in der Kritik stehen. „Mal sehen, was es heute im Angebot gibt?“, ruft Peter Hahne nach hinten. Aber sie sind wohl auch gekommen, um als parteigesetzte Schoßhündchen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Informationshäppchen vom Tisch der Politiker aufzuschnappen.

 

Berliner Charme

August. Ich möchte im S-Bahnhof von Berlin-Friedrichshagen eine Umweltmonatskarte kaufen. Der Frau hinter dem Schalter rufe ich in ein eingebautes Mikrofon den Wunsch zu. Sie nennt über Lautsprecher den mir bekannten Preis. Das Geld lege ich in die eingelassene metallene Vertiefung vor mir. Die Regel ist: Erst das Geld, dann die Ware. Die Angestellte zieht mit der Schiebevorrichtung die Euros zu schnell an sich, das erste Glied meines Mittelfingers wird eingeklemmt, der Schmerz zieht blitzschnell bis in den Oberarm. Ich bekomme den Finger heraus. Wohl mit der Seelenlage eines Fleischerhundes ausgestattet fragt sie recht cool: „Die Fingerkuppe ist wohl noch dran, wa?“

 

Abenteuerreisen

August. In Karlshorst stürzen die Menschen verärgert aus der S-Bahn-Linie 3 Richtung Ostbahnhof. Ich las in der Zeitung und hörte nicht auf die Lautsprecherdurchsage. Am Vortag war doch in Kiel ein Bahnattentäter gefasst worden, und nun hier? Irrtum. Die Fahrt ende wegen „einer defekten Weiche“ in Karlshorst. Eine Weiterfahrt erfolge bald. Es ist Samstag, 14.20 Uhr. Um 14.45 will ich am Savignyplatz sein; das wird nichts. Gut nur, dass im Bereich Köpenick/Karlshorst kaum Anhänger von Hertha Berlin wohnen, die gerade auf der Tour zu dem Heimspiel gegen Hannover 96 wären. „Weiterfahrt 14.31 Uhr am selben Bahnsteig.“ Um 15 Uhr ist ein Treffen im Kant-Café. Ob das was wird? Die Züge in die entgegengesetzte Richtung Erkner fahren wie zur Provokation pünktlich im Takt von zehn Minuten. Aus einer Bahn steigt Hans Modrow. Den Wartenden fällt er nicht auf. Altersbedingt ist er kleiner geworden. So ein Politiker ohne die Regierungsaura kann schon wie ein Würstchen wirken. Er verlässt den Bahnhof. In Karlshorst residierte früher der sowjetische Botschafter, hier holten sich die Politiker der SED ihre Befehle ab. Es ist 14.30 Uhr. „Die Bahn um 14.31 Uhr fällt ersatzlos aus, die nächste fährt 14.41 Uhr.“ Das Wort Entschuldigung gibt es im öffentlichen Dienst von Berlin nicht. Ich habe kein Handy dabei, das Treffen wird eine Panne. Ich bin eine Geisel der S-Bahn. Warten, warten, warten. Um 14.42 setzt sich die überfüllte Bahn in Bewegung – aber nur bis Ostkreuz. Die Zeit dehnt sich wie Gummi. Am Ostkreuz wühlen sich die Fahrgäste aus den Waggons, Schulter an Schulter hasten sie eine Treppe hinauf, stürzen wenige Meter in einer Überführung nach vorn, wieder hinunter auf einen anderen Bahnsteig. Die S-Bahn nach Potsdam über den Haltepunkt Savignyplatz verlässt, für die meisten noch sichtbar, gerade den Bahnhof. Über Lautsprecher heißt es, man möge von dem Bahnsteig weiterfahren. Über das defekte Gleis wird nichts gesagt. Die Fahr“gäste“ haben die Befehle hinzunehmen. Basta heißt es überraschenderweise aber nicht. Minuten später läuft die S-Bahn mit dem Ziel Spandau ein. Die Menschen stehen in Dreierreihen an der Bahnsteigkante. Kinder plärren, Eltern sind genervt, einige Fahrgäste aggressiv, wer sein Fahrrad dabei hat, spürt intensive Ablehnung. In der Bahn gibt es nur noch Stehplätze. Gut, dass keine Hertha-Fans dabei sind, die würden toben. Um 15.20 Uhr bin ich am Ziel.

 

Einmal quer durch Berlin

August. „Pack die Badehose ein, und dann nichts wie raus zum Wannsee.“ Dieser Schlager wird seit über vier Jahrzehnten gesungen. Der Wannsee gilt als Badewanne der Berliner. An seinem Ufer liegt ein riesiges denkmalgeschütztes Freibad. Der gleichnamige Ortsteil markiert den äußersten Westen der Hauptstadt, er ist großbürgerlich und kleinstädtisch geprägt. Dem Wannseebad gegenüber unterhalten Yachtclubs einstige Unternehmervillen am Ufer des Sees. „Eingang nur für Mitglieder“ ist das am meisten aufgehängte Schild. In dem Villenbereich wohnte der Maler Max Liebermann. Sein großbürgerliches Haus mit dem von ihm gestalteten Garten am Seeufer ist für Besucher zugänglich. Wenige Meter neben Liebermanns Sommersitz steht die 1915 im Neobarock erbaute Villa Marlier. Dort erarbeiteten am 20. Januar 1942 fünfzehn Personen aus der NSDAP und dem Staatsapparat die so genannte Endlösung der Juden. Sie bereiteten das größte Verbrechen der Menschheit vor: Die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen jüdischen Glaubens. Das in einem Park am Ufer des Sees gelegene „Haus der Wannseekonferenz“ ist zu besichtigen. „Das Schönste ist nichts als des Schrecklichen Anfang“, schreibt Rainer-Maria Rilke.

Schild am Wannsee

Es gibt wenige Möglichkeiten, auf dieser Seite das Ufer des Wannsees zu betreten. Zu besichtigen ist etwas abseits vom See der kleine Friedhof der Gemeinde. Das Eingangstor muss geschlossen werden, damit die Grabanlagen vor streunenden Wildschweinen geschützt bleiben. Auf dem Friedhof befindet sich die Gruft der Unternehmerfamilie von Siemens. Der S-Bahnhof Wannsee war bis 1989 die letzte Station innerhalb von Westberlin, wenige Meter weiter stand die Mauer, die vor 45 Jahren erbaut wurde. Im Bahnhofsgebäude mag sich mancher Reisende in die dreißiger Jahre versetzt fühlen. Die Schrift „Bahnhof Wannsee“ ist altertümlich. Aus Potsdam kommend beginnt mit der Linie S 7 eine Tour vom äußersten Westen bis tief in den Osten quer durch die deutsche Hauptstadt. Nach Wannsee folgt die Station Nikolassee, den See umgeben Villensiedlungen. Es gilt die Regel, dass nach zweieinhalb Minuten Fahrt in der S-Bahn der nächste Bahnhof kommt. Doch zwischen Nikolassee und dem Bahnhof Grunewald erfolgt die längste Fahrt mit der S-Bahn innerhalb der Stadt Berlin. Lange begleitet die S7 die einstige Autorennstrecke Avus, die parallel zu den Schienen verläuft. Auch das Umfeld des Bahnhofs Grunewald gilt als gehobene Wohngegend. Von hier wurden in der Nazizeit die jüdischen Bürger wie Vieh in Waggons zu den Vernichtungslagern transportiert. An dem Gelände gibt es die beeindruckendste Gedenkstätte der Hauptstadt: Die Verladerampe zum Abtransport der Menschen ist in ihrem Urzustand erhalten geblieben.

Die dritte Station Westkreuz ist eine ideale Umsteigestation, von hier kann der Bahnkunde einmal entweder im Uhrzeigersinn oder gegen ihn in einer S-Bahn die Stadt umfahren und landet nach über einer Stunde wieder am Westkreuz. Die S 7 fährt vom Westkreuz Richtung City. Ihre nächste Station ist Charlottenburg. In der Weimarer Republik wurde die Gegend Charlottengrad genannt, weil dort viele russische Vertriebene lebten. Sie dominierten das Kulturleben Berlins. Inzwischen wohnen wieder viele Russen in der deutschen Hauptstadt, doch das Leben in Charlottenburg inspirieren sie nicht, weil viele von ihnen nicht zu den Intellektuellen gezählt werden können. Die Gegend zwischen Bahnhof Charlottenburg und Savignyplatz gehört nicht zu den städtebaulichen Glanzstücken, weil der rasche Wiederaufbau nach der Zerstörung 1945 Restaurierungen zerbombter Häuser nicht zuließ. Es musste im Westen von Berlin schnell Wohnraum geschaffen werden, und das sieht der Besucher noch in der Gegenwart.

Die S 7 läuft im Bahnhof „Zoologischer Garten“ ein. Von hier starteten die Westberliner über Jahrzehnte in Interzonenzügen Richtung Bundesrepublik. Mit dem Erlebnisbuch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ wurde bekannt, dass es hier die Westberliner Drogenszene gab. Seit Mai dieses Jahres halten in der alten Bahnhofshalle nur noch S-Bahnen und Regionalexpresse, die Fernzüge donnern durch. Wiederholt protestierten in der Nähe wohnende Bürger und Einzelhändler gegen die verkehrspolitische Zurücksetzung. Vergeblich. Die Umsätze der Händler im Bahnhof „Zoologischer Garten“ sollen um 70 Prozent gesunken sein, sie verlangen von der Bahn als Vermieter der Geschäfte Mietnachlässe. Ein Sprecher des Unternehmens antwortete im regionalen Fernsehen cool. „Das wollen wir mal erst abwarten. Wären die Einnahmen um 70 Prozent gestiegen, hätten die auch nicht auf Mieterhöhung gedrängt.“ Als zu groß für so wenig Verkehr wirkt der Bahnhof schon. Bei der Hinausfahrt Richtung Osten gelingt dem Fahrgast ein Blick in einige Tiergehege des nahen alten Zoos. Von der Höhe des S-Bahnhofes Tiergarten schaut er über die lang und gerade verlaufende Straße des 17. Juni auf die Siegessäule und die Parks des Tiergartens, weit hinten ist spielzeugklein das Brandenburger Tor zu sehen. Nach Verlassen des Bahnhofes Bellevue überquert die S 7 die Spree. Das supermoderne Gebäude des Bundesinnenministeriums am Ufer des Flusses gerät in den Blick, auf der anderen Seite liegen die Parkanlagen und das Schloss Bellevue, in dem der Sparkassendirektor Horst Köhler als Bundespräsident residiert. Weht auf dem Dach die Fahne, ist er anwesend.

Hauptbahnhof

Seit Mai gibt es in der Hauptstadt erstmals in ihrer Geschichte einen Hauptbahnhof. Die S-Bahn schnurrt in einen lichtdurchfluteten Dom. In Berlin heißt es auch, der Hauptbahnhof sei ein Kaufhaus mit Gleisanschluss. Aus seiner Höhe bekommt der Reisende einen guten Blick auf das Bundeskanzleramt und den wuchtig wirkenden Reichstag, dessen Kuppel in diesem Bereich alle anderen Bauten überragt. Als Berlin über Jahrzehnte eine siamesische Stadt war, endete hier die Fahrt vom Wannsee bis zum Lehrter Stadtbahnhof im Westteil; so hieß die Station, bis sie im Mai 2006 Hauptbahnhof wurde. Nach Verlassen des Hauptbahnhofes begleitet die Spree die Bahnstrecke, an ihrem Ufer zeigt sich noch das normierte Gesicht der Hauptstadt der DDR: Plattenbauten, Plattenbauten. Sie sind überwiegend nicht mehr bewohnt. Makler nennen das „entmietet“. Nun rumpelt die S 7 erneut über die Spree. Die nächste Station Friedrichstraße war in der Weimarer Zeit das Ziel vieler Touristen, hier tanzte in jener Zeit der Bär. Die Regierung der Arbeiter und Bauern ließ nur wenige Arbeiter und Bauern ausreisen, und wenn, dann hier über den Bahnhof Friedrichstraße. Einreisende Westdeutsche mit Tagesvisum erinnern sich an demütigende Kontrollen durch die Polizei des Volkes und den penetranten Geruch von Wofasept und Wofasteril, der ihnen nach der Einreise in allen öffentlichen Gebäuden des DDR weiter penetrant entgegenschlug. Die Friedrichstraße mit ihren Glaspalästen rechts und links ist nun die Mitte des Ostens, die dem Kurfürstendamm den Rang abzulaufen droht. Sie ist eine pulsierende Einkaufsstraße. Das Aschenputtel-Flair der DDR ist völlig verschwunden. Die S 7 fährt nahe am Bodemuseum vorbei, das, wie ein Schiff gebaut, an zwei Seiten vom Wasser der Spree umspült wird. Sie durchquert das Weltkulturerbe Museumsinsel. Wieder überfährt danach die Bahn den Fluss. Berlin hat mehr Brücken als Venedig. Die Station Marx-Engels-Platz ist umbenannt in Hackescher Markt; er hat eine beachtliche Sogwirkung auf Touristen. Direkt neben dem Bahnhofsgebäude liegt die Zentrale des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Nächster Halt ist der Alexanderplatz. Die riesige Halle lässt erahnen, der Bahnhof war mal verkehrspolitisch bedeutender. In der Gegenwart wird der vor Monaten noch verwahrlost wirkende Platz aufgerüstet. Von dem, was Döblin in seinem Roman „Berlin. Alexanderplatz“ beschrieb, blieb kaum ewas erhalten. Der Schauspieler Michael Degen besuchte den Alex im Mai 1945 und beschreibt ihn als zu überschauende Trümmerwüste. Im selben Jahr feierte dort noch vor der Kapitulation der Wehrmacht die Rote Armee den 1. Mai. Neben dem Bahnhof zeigt der Fernsehturm wie ein ausgestreckter Zeigefinger in den Himmel. Vor dem Haltepunkt Jannowitzbrücke nähert sich die Strecke erneut der Spree. Sie fließt vor dem Märkischen Museum, das wegen seiner Bauweise von Unkundigen für eine mächtige Kirche gehalten werden könnte. Der Fluss begleitet die Bahngleise längsseits: An der Jannowitzbrücke dominiert nach dem Märkischen Museum optisch die Botschaft der Volksrepublik China. Aus dem ehemaligen Sitz des Bundesvorstandes vom FDGB wurde die Vertretung des Riesenreiches in einen zeitgemäßen Glaspalast verwandelt. Hier am Ufer Spree saßen einst junge Sportler und berieten, wie sie einen zu gründenden Fußballverein nennen wollten. Über den Fluss schipperte ein Ausflugsdampfer namens „Hertha“, Hertha BSC Berlin bekam so ihren Namen.

Nächste Station der S 7 ist der Ostbahnhof. Einst hieß er Schlesischer Bahnhof, in der DDR eine zeitlang Hauptbahnhof, nach der Vereinigung Ostbahnhof. Seit der Eröffnung des Hauptbahnhofes verlor auch der Ostbahnhof wie der Zoologische Garten an Verkehrsaufkommen. Von hier starten noch die ICE ins Rhein-Ruhrgebiet und einige Richtung München und Stuttgart. Ansonsten dominieren Nahverkehrszüge und S-Bahnen. Im Ostbahnhof gibt es in der Eisdiele Tiziano Gelatti sehr empfehlenswertes Eis. Das einstige Gedränge von Reisenden ist abgeebbt, es herrscht der Eindruck, Ruhe und Gemütlichkeit seien eingekehrt, es ist ein Hauch von Provinzbahnhof wie in Recklinghausen, Neubrandenburg, Schwerin oder Wanne-Eickel zu spüren.

Dem Ostbahnhof folgt der Stopp an der Warschauer Straße. Dieser Haltepunkt ist der hässlichste während der gesamten Tour, im Winter regnet es über die Bahnsteige, der Wind zaust die Wartenden, das Umfeld ist wenig anregend. Zurzeit wird er umgebaut. Zwei Minuten später hält die S 7 im Bahnhof Ostkreuz. Wie in der Station Westkreuz ist von hier der Umstieg zu einer Fahrt rund um den inneren Bereich von Berlin möglich, das heißt von Ostkreuz nach Ostkreuz über Westkreuz. Wegen seines Verfalls wird das Ostkreuz Rostkreuz genannt. Seit einem Jahrhundert gab es hier wenige Veränderungen. Im Jahre 1903 war der Bahnhof im Wesentlichen komplett. Die einzige Ergänzung durch den Bau einer Fußgängerbrücke erfolgte 1923 im Stile der Neuen Sachlichkeit; 1926 wurde sie überdacht. Fahrtreppen und Aufzüge fehlen. Die Stromversorgung ist 80 Jahre alt. Hundert Jahre vergingen ohne Sanierung, und das ist zu sehen.

Ostkreuz - Brücke

Die Bahn rumpelt weiter in alte Berliner Wohnbezirke. Im Ostteil der Stadt sind Abbruch und Aufbau nahe beieinander. Da strahlen sanierte Häuser in frischer Farbe, das Gebäude nebenan ist altersgrau und nahe dem Verfall. Die Haltepunkte sind nun Nöldnerplatz und dann der Bahnhof Lichtenberg. Der war in der DDR ein wichtiger Ankunfts- und Abfahrtsort für Züge in den Osten Europas. Warschau, Moskau, Kiew, Odessa aber auch Göteborg wurden von hier erreicht. In der Gegenwart sind es noch der polnische Grenzort Küstrin und gelegentlich Moskau. Der Kiez um den verkehrstechnisch entwerteten Bahnhof Lichtenberg gilt als von Neonazis beherrscht. Ein Abgeordneter der Linkspartei – früher SED – mit türkischer Herkunft wurde vor Wochen auf der Straße krankenhausreif geschlagen. Ab Lichtenberg sind Häuser aus der Zeit vor 1933 nur noch selten zu sehen, es überwiegt nun die sozialistische Bauweise: Plattenbauten so weit das Auge reicht. Die vierte Station nach Lichtenberg ist Marzahn. Als dort die 100.000. Wohnung in einer Platte bezogen wurde, besuchte Erich Honecker die Mieter. In seiner Begleitung befand sich Konrad Naumann, 1. Sekretär der SED Berlin. Konrad Naumann, meist nur Conny gerufen, war wegen seiner Trinkfestigkeit und Raubeinigkeit sogar beliebt. Als Honecker die Mieter verließ, blieb Konrad Naumann bis zum späten Abend in der Wohnung und becherte mit Nachbarn der Besuchten. Im Rausch sagte er dann die Wahrheit, in so einem Haus mochte er nicht wohnen.

Gerade wie mit einem Lineal gezogen verläuft das Gleis an den letzten Stationen neben einer ebenso geraden Straße zum äußersten Rand von Berlin. Überwiegend auf der rechten Seite ziehen wie eine hohe unüberwindliche Betonmauer Plattenbauten vorbei. Als die DDR in ihren letzten Zügen lag, hatte ich ab Sommer 1990 im Bereich der letzten Haltestelle, nahe dem S-Bahnhof Ahrensfelde, eine Wohnung in einem Plattenbau gemietet. Vor 16 Jahren fuhr ich zweimal täglich die Strecke, vorbei an einer städtebaulichen Ödnis. Inzwischen ist das Einheitsgrau des gescheiterten Sozialismus verschwunden, die Häuser schmücken unterschiedliche Farben, Balkons wurden angebaut, Grünanlagen umschmeicheln die einstigen Wohnkasernen. Ahrensfelde ist die letzte Station, sie liegt aber noch in Berlin, nur weniger Meter weiter endet die Stadt. Vom Wannsee bis hierher sind es 26 Stationen, die weit über einstündige Fahrt kostet 2,10 Euro. Hinter der Endstation liegt das Dorf Ahrensfelde. In der DDR wurde es auch von einigen Verbannten bewohnt, denen Hauptstadtverbot – das gab es – auferlegt war. Sie lebten hier, um der Stadt nahe zu sein. Der Bahnhof, für die S-Bahn ein Sackbahnhof, ist seit 1990 baulich nicht umgerüstet worden. Im Übergang zu den Gleisen riecht es nach Urin. Die Farben sind nicht erneuert worden, Grafitti überwiegt. Noch immer verkaufen Asiaten Zigaretten ohne Steuerbanderole. Und sicherlich viele von denen, die stets nach einem starken Staat rufen, kaufen bei denen. Wer in der DDR hier lebte, war auf eine gewisse Weise aus dem Hauptstadtleben verbannt. Nach der Arbeit noch einmal zurückzufahren Richtung Alex, war zu zeitaufwändig. An den Straßenrändern waren die einheitsfarbigen Trabbis geparkt. Gelegentlich war mal ein Wartburg darunter. Der erste Obsthändler nach Einführung der DM hatte einen Verkaufstand am Bahnhofsausgang. Am einzigen Zeitungskiosk gab es die ersten Bild-„Zeitungen“ zu kaufen. Kaiser’s hatte die „Kaufhalle“ übernommen. Aber immer noch bugsierte die Kassiererin mit dem linken Arm mürrisch die Ware aus einem Verkaufswagen, tippte den Preis ein, legte sie in einen zweiten. Wenn Tennisspieler wegen einseitiger Belastung einen so genannten Tennisarm haben, mussten die Frauen aus der Kaufhalle einen Kassiererinnenarm haben. Es gab nur eine Kneipe, sehr wenige Läden nahe dem Bahnhof, im Prinzip war der Stadtteil geprägt von der Arbeiterintensivhaltung. Damalige Brachen sind inzwischen als Grünflächen bebaut. Die Straßenschilder sind neu, die Wohnblöcke farbig, Trabbis sind nicht mehr zu sehen, in einem Neubau gibt es Filialen von Warenhausketten, eine Pizzeria und einen Kieztreff, in dem täglich ein preiswertes Mittagessen auf der Karte steht. Der Schulhof am Geraer Ring konnte es in der DDR mit jedem preußischen Kasernenhof aufnehmen. Inzwischen sind Spiel- und Turngeräte darauf gebaut, parkähnliche Anlagen schmücken ihn. Ein Springbrunnen zieht Kinder zu Wasserspielen an. Eine Spielanlage direkt neben dem Bahnhof wird von den Kids wohl nicht angenommen, sie wirkt wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe. Wenige Meter daneben sitzen Eltern an Plastiktischen vor der Pizzeria. Schon um die Mittagszeit kreist bei einigen die Bierflasche. Die Aschenbecher auf den Tischen sind überfüllt. Aus dem Halbdunkel des Lokals dringen die zu lauten Gespräche der Gäste. In Honeckers Staat war glücklich, wer in diesen freudlos gebauten Wohnbatterien eine Unterkunft bekam. Die Plattenbausiedlung war sozial durchmischt: Arbeiter wohnten mit Hochschullehrern oder niederen Partei- oder FDGB-Angestellten zusammen in einem Haus. Wer es sich nach dem Zusammenbruch des Regimes leisten konnte, verließ meistens die Wohnblöcke, entweder Richtung Innenstadt oder in eine uniform gestaltete Einfamilienhaussiedlung außerhalb der Metropole, oder er suchte sich Arbeit im Westen. Es blieben Ortstreue und Verlierer zurück. Inzwischen werben die Wohnungsgesellschaften um neue Mieter. Ob sie kommen? Zumindest ist es von der letzten S-Bahnstation in Berlin sehr zeitaufwändig, in die City zu kommen, zumal dann, wenn die im ehemaligen Westen aufgesucht wird.

Ahrensfelde

Zitate

 „In meinem Viertel, dem Prenzlauer Berg, leben besonders viele Autoren, hauptsächlich Schriftstellerinnen, ich sehe sie oft auf der Straße. Die junge Frau mit der großen Nase ist sehr berühmt, die kleine mollige Blonde und die rothaarige Hexe auf dem Fahrrad ebenso. Alle Bewohner, die keine Schriftsteller sind, outen sich wenigstens als Leser, zumindest haben hier viele ein Buch in der Hand, wenn sie spazieren gehen.“
Wladimir Kaminer, russischer Schriftsteller in Berlin

„Ich gehe nicht wegen des Essens ins Borchardt, ich gehe wegen des People-Watching, Entertainment. Ich beobachte hier und da. Bis tief in den Morgen habe ich Köpfe mit Schäuble und Rotweinnasen, den Herrn Dr. den Herrn Außenminister Fischer, da saßen sie und haben sich vorzüglich verstanden. Da saß die noch nicht verheiratete Frau mit ihrem Professor. Wer, was, ist für einen Kolumnisten, wie ich einer bin, schon eine wichtige Tränke. Schnüffeltränke. Man wird nicht angeglotzt und es gibt auch keine Autogrammwünsche. Und die meisten Leute sind von ihrer Wichtigkeit so überzeugt, dass sie einen anderen Wichtigen gar nicht anerkennen. Deswegen sind sie alle ein bisschen sicherer. Wieso soll Herr Ex-Außenminister Fischer von Herrn Schäuble ein Autogramm haben wollen?“
Franz Josef Wagner, Kolumnist der Bild-„Zeitung“

„Liebe Kolleginnen und Kollegen,
in Berlin leben ca. 70.000 Wildschweine, die keine natürlichen Feinde haben und sich gern am Stadtrand in Gärten und Grünanlagen aufhalten. Deshalb bitten wir darum, die Eingangstore und das Parkplatztor immer zu schließen, damit keine Wildschweine auf unser Gelände kommen.“
Aushang in der Bildungsstätte Clara Sahlberg von ver.di in Berlin-Wannsee

„... das politische Aufbackbrötchen aus Niedersachsen.“
Aus dem Berliner Szeneblatt „zitty“ über Friedbert Pflüger (CDU), der Regierender Bürgermeister werden möchte.

„Berlin ist eine tolle und abwechslungsreiche Stadt: die Kneipen, die Leute, das multikulturelle Flair.“
Louis Charbonneau, US-Amerikaner, Korrespondent der britischen Agentur Reuters

„Im Sommer gibt es viele Modesünden. Bauchfreie T-Shirts erinnern den Berliner Designer Kilian Kerner an eine ‚Tussi de Luxe‘. Mit Leggings und Minirock sieht man laut Modeschöpfer Friedbert Schneider aus wie eine ‚Prenzlberger Punk-Schlampe‘. Trägt Mann ein Hawaiihemd, oute er sich sofort als ‚Wilmersdorfer Papi.‘ Greift er bei der Hitze zu einem Muskel-Shirt, hat er gleich den  ‚Schwuchtel-Look.‘
Als wenn das alles noch nicht genug wäre, kennt der Sommer noch einen weiteren modischen Fauxpas: String-Tangas seien zwar zu jeder Tageszeit out, sagt Friedbert Schneider, ‚aber jetzt blitzen sie unter den Röcken hervor und sehen aus wie Zahnseide‘.“
Berliner Zeitung vom 25. Juli 2006

„3.500 Schweizer leben in Berlin. Die anderen 7.523.934 Schweizer leben – noch – in der Schweiz.“
„zitty“ Nr. 16/2006

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