Hans Dieter Baroth - Home

Berliner NotizenBerliner NotizenBerliner Notizen

Februar 2006

Drucken

 

Stockfehler

Februar. In der Rossmann-Filiale an der Bölschestraße wird die Käuferschlange vor nur einer besetzten Kasse länger und länger. Eine Angestellte sortiert Waren in die Regale. Sie wird von ihrer Kollegin gerufen, um eine weitere Kasse zu bedienen. Wer hinten in der Schlange steht, hastet zu der mit neuer Besetzung. Doch die herbeigerufene Kassiererin hat Schwierigkeiten, ihre Kasse zu beherrschen. Sie steht vor der Apparatur, hantiert mit einem Papierstreifen, sie wirkt hilflos. Eine weitere Angestellte kommt hinzu, um ihr zu helfen. Ein Mann hat seine Ware auf das Laufband gepackt und wartet. Verhalten fragt er, wie lange es wohl noch dauere? Das war ein Stockfehler. Die Kassiererin putzt den Kunden herunter. Ob er nicht wisse, dass Strom gebraucht werde, sie bemühten sich, ob er blind sei? Die laute Schelte prasselt auf den Kunden. Der hochgewachsene Mann scheint kleiner zu werden, als Ostgeborener hat er Demut vor Verkäuferinnen wohl in den Genen. Und die Bellende zeigt auch ihre alten Reflexe aus dem Staat der Arbeiter und Bauern, da waren die Kunden nicht Könige, sondern Knechte.

 

Blickfeld Friedrichstraße

Februar. Am späten Vormittag steht nur eine Kundin vor der Verkaufstheke des Coffeeshops in der Friedrichstraße. Dort werden Süßigkeiten aus Australien verkauft. Die Frau kauft Pralinen vom anderen Ende der Welt. Jüngere Kundinnen werden von dem Studententypen hinter der Theke geduzt, und sie duzen ihn auch. Die Humboldt-Universität liegt in der Nähe. Wohl deshalb sind es mehr Studierende als Touristen, die ihre Süßigkeiten hier besorgen. Wer in dem Geschäft, auf einem Hocker sitzend, seinen Kaffee genießt, bekommt viele vermeintliche Vorurteile bestätigt. Durch eine große schaufensterähnliche Scheibe schaut der Gast auf die pulsierende Friedrichstraße. Rechts liegt das Bahnhofsgebäude, eine Tramhaltestelle trennt die Fahrbahnen, und auf der anderen Straßenseite befinden sich in einem modernen Hochhaus einige Geschäfte von Ketten wie Rossmann oder Strauß, auch ein modernes Antiquariat zieht Laufkundschaft in seine Räume. Der Beobachter sieht: Touristen trödeln meist in Rudeln oder größeren Familienverbänden durch die Stadt. Wer dick ist, frisst fast ununterbrochen und dazu noch gierig, auch auf der Straße. Jüngere Einwohner der Hauptstadt hasten mit knatschigen Gesichtern über die renommierte Straße, meist mit Stöpseln in den Ohren, weil sie Musik hören. Nahe der Tramhaltestelle ist eine Ampel angebracht. Wer die Autofahrer in der Gelbphase starten sieht, muss zu dem Ergebnis kommen, dass Frauen den Männern immer ähnlicher werden. Sie fahren so rasant an, dass ein früher Unfalltod im Auto nicht unwahrscheinlicher erscheint als bei Männern. Es verdichtet sich auch der Eindruck, dass Frauen – zumindest auf der Straße – öfter rauchen als Männer. Bei den Ostfrauen stimmt was nicht, denn ihr Schluffi geht meistens an der falschen, der rechten Seite. Der Milchkaffee ist empfehlenswert. Der Ausblick auch.

Köpenick

Die Caféstadt Köpenick

Februar. Das „Altstadtcafé Cöpenick“ gilt als feiner Laden. Fischsuppe heißt „ertrunkener Fisch“. Als der Schuster Wilhelm Voigt mit einer Offiziersuniform aus dem Kostümverleih und einer angeheuerten echten Garde kaltblütig Köpenicks Stadtkasse raubte und den Bürgermeister festsetzen ließ, schrieb sich das Städtchen noch Cöpenick. Vor 40 Jahren wurde dort unter den Augen der SED der Fußballclub „Union Berlin“ gegründet. Im Gründungsjahr war Hans Modrow 1. Sekretär in Köpenick. Als er vor 16 Jahren als Ministerpräsident der DDR abgewählt wurde, lag der Berliner Ortsteil zwischen Spree und Dahme verfallen danieder. Mit Transfergeldern wurde er zu einer anmutigen Kleinstadt aufgerüstet. Die von Wasser umspülte Altstadt beherbergt inzwischen viele Cafés. Das an der Dahme gelegene Schloss Köpenick ist restauriert worden und spiegelt sich im Flusswasser. In seiner Remise befand sich schon zu Zeiten der DDR ein stets überlaufenes Café. Mit dem „Altstadtcafé Cöpenick“ bekam es Konkurrenz, was gut für die Touristen war. Ein weiterer Wettbewerber trägt den treffenden Namen „Milchkaffee“. Der Genießer von Milchkaffee wird überrascht, auf wie verschiedene Weise dieser geschmacklich variiert werden kann. Einige Hotels rüsten für die Nachmittagszeit ihre Restaurants zu Cafés um. An einer Hauptstraße des Städtchens gibt es eine Kombination aus Café und Antiquariat. Die Möbel sind gezielt aus Omazeiten gewählt, an den Wänden stehen Bücherregale. Der Besucher darf hineingreifen und während seines Aufenthalts dort lesen. Gefällt ihm ein Werk, kann er es kaufen. Aber Literatur aus der DDR ist Mangelware, die meisten Bücher stammen aus den sechziger Jahren und wurden jenseits des antifaschistischen Schutzwalls verlegt. Es macht Spaß nach Drucken aus der DDR zu suchen. Zwischen dickleibigen Westbänden wirkte ein schmales Osttaschenbuch wie ein literarischer Hungerleider. Es ist der unterhaltsame hintersinnige Roman „Das Geschäft des Lebens“ von Saul Bellow. Verlegt wurde er 1976 bei Reclam in Leipzig und kostete 1,50 Mark. Sein Preis hat sich erheblich erhöht, denn nun liegt er für 1,50 Euro im Angebot. Der geschiedene und einen hohen Unterhalt zahlende Held des Romans klagt über die Verfassung der USA: „Die Emanzipationserklärung galt nur für Neger. Ein Ehemann wie ich ist ein Sklave mit einem eisernen Halsring. Die Kirchen pilgern zur Landeshauptstadt und beauftragen die Gesetzgebung. Sie erlauben keine Scheidung. Das Gericht sagt: ‚Du willst frei sein. Dann musst du doppelt so schwer arbeiten – mindestens doppelt. Arbeite, du Narr!‘“ Auf der Rückseite des Bändchen erklärte der Verlag den Bürgern der DDR diesen Roman: „Er scheitert im Sinne der monopolkapitalistischen Gesellschaft, in der kein Platz ist für Menschen, die nicht in der Lage sind, erbarmungslos von ihren Ellenbogen Gebrauch zu machen.“ Ich zeige der Chefin des Cafés den Text. Sie liest, lacht und kommentiert: „Ja, so war das damals.“

 

Rheinisches am Spreeufer

Februar. Der Beschluss des Deutschen Bundestages, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen, und großformatige Kopien von rheinischen Zeitungen mit Berichten darüber hängen gedruckt auf der Herrentoilette. Ob die Frauentoilette auch solche Drucke bietet, ist mir unbekannt. Wie eine rheinische Exklave empfindet der Gast das Lokal „Ständige Vertretung“ am Bahnhof Friedrichstraße. Vor der Theke stehen oft Berlintouristen, die auf ihr geliebtes Kölsch nicht verzichten möchten. Die Aussprache vieler Gäste ähnelt der von Ulla Schmidt. Zum Lesen hängt der sozialdemokratische „Vorwärts“ aus, aber auch der „Bonner Generalanzeiger“, der an den Ufern des Rheins gern „Generalverschweiger“ genannt wird, wird als Lektüre geboten. Die Wände scheinen tapeziert mit den Fotos sozialdemokratischer Granden: Willy Brandt mit Klampfe, Gerhard Schröder in jungen Jahren, Johannes Rau als Landesvater, Helmut Schmidt in seinen besten Jahren, Wolfgang Clement aus Bochum in seiner Zeit als dynamischer Springinsfeld. Plakate aus der DDR wirken wie bunte Farbtupfer. Auf einem farbigen Druck sind in Abänderung des Emblems der DDR Hammer und Banane gekreuzt. Der Blick aus den riesigen Fenstern des Lokals zeigt wie eine Kulisse die Spree und den Bahnhof Friedrichstraße, der einst die Grenzstation zwischen Ost- und Westberlin war. Nur wenige hundert Meter entfernt von der Gaststätte lag die Ständige Vertretung der BRD in der DDR. Der Wirt Harald Gruner mit grauweißen Haaren und gleichfarbigem Schnurbart redet fröhlich im rheinischen Singsang mit seinen Gästen. Die Berliner Miesepetrigkeit und die in der Hauptstadt übliche Raunzerei scheinen aus dem Lokal „Ständige Vertretung“ verbannt zu sein. Die Bedienung ist locker wie in Düsseldorf, Köln oder Bonn. Wer öfter kommt und gern Milchkaffee trinkt, dem sagt die Serviererin schon mal: „Ich mache Ihnen den.“ Der Zapfer hinter der Theke füllt lieber mit Inbrunst das helle Kölsch in die schmalen hohen Gläser. Kommt die Bestellung nach Milchkaffee, hört die Kollegin schon mal: „Sind wir hier eine Teestube?“ Sie aber hat ein Händchen für sehr schaumigen Milchkaffee. „Die Bonner“, wie die Angestellten und Beamten aus der früheren Regierungszentrale in Berlin genannt werden, treffen sich nach Feierabend „auf ein Kölsch“ hier an der Theke. Bis vor einigen Monaten bot der Wirt Harald Gruner mittags ein Büfett. Das wurde abgeschafft, weil sich etliche Gäste so viel auf ihre Teller luden, dass große Reste auf den Tellern blieben. Jetzt gibt es ein Mittagsgericht mit zwei Gängen, meist aus der nordrhein-westfälischen Küche. Beim Karneval ist es schwer, in der „Ständigen Vertretung“ auch nur einen Stehplatz zu bekommen, so stark ist der Andrang von Jecken aus dem Rheinland. Wer seine Rechnung auf den Tisch gelegt bekommt, erhält zusätzlich ein passfotokleines Bildchen mit einem lachenden Willy Brandt darauf. In rheinischer Lebensart steht dazu geschrieben: „Lachen, einfach lachen ... auch wenn die Rechnung kommt.“ www.staev.de 

 

Eine 58-Minuten-Fahrt

Februar. Der Bus M29 startet am Hermannplatz in Neukölln und benötigt laut Aushang für seine Tour quer durch Westberlin etwas mehr als eine Stunde. Kein Stadtbereich ist so dicht bevölkert wie Neukölln. Der Hermannplatz gilt wie seine Umgebung als Wohnbereich von armen Leuten. Die Abfahrtstelle liegt neben einem Kaufhaus. In dem wurde der erste Pornoladen nur für Frauen eröffnet. Nach übereinstimmenden Presseberichten gilt er als seriös. Das von Männern verbreitete Gerücht, die Kundinnen könnten in dem Kaufhaus Dildos testen, wird in den Bereich der schmutzigen Fantasie verwiesen. Hinter dem Hermannplatz liegt die Hasenheide, sie gehört schon zu Kreuzberg. Die Polizei stuft den Bereich als unsicher ein, er gilt als Umschlagplatz für Drogen. An der Hasenheide liegt die Nuntiatur.

Vom Hermannplatz fährt der M29 über die Sonnenallee, jene Straße, die es früher in West- und in Ostberlin gab. Sie bildete den Hintergrund für einen Roman mit dem Titel „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Der Fahrer steuert den Bus nach links Richtung Kreuzberg. Zunächst fährt der M29 über Straßen mit hohen Mietskasernen rechts und links. Zwischen einigen dunklen verwohnten Häusern wurde eine Fläche mit Schrebergärten bebaut. Aus Berlin stammt die Idee der Schrebergärten. Ein Arzt namens Schreber setzte sich im 19. Jahrhundert dafür ein, Proletarier sollten sich in den Kleingärten erholen können. Folgerichtung entschied der Schrebergartenverein sich für den Namen „Freie Stunde“. An einer Straßenecke gab es im Sommer 2005 eine Bio-Eisdiele, wo eine sehr freundliche Bedienung arbeitete – sie war wohl deshalb so umgänglich, weil sie aus Schwenningen im Schwarzwald stammte. An einer Hauswand gegenüber war ein riesiges Foto von Angela Merkel angebracht, das durch den Wurf mit einem Farbbeutel verunziert war. In der einstigen Eisdiele mietete sich eine „Lebkuchenmanufaktur“ ein, die Hauswand ist merkelfrei gesäubert.

Nach knapp zehn Minuten Fahrt ist der M29 in Kreuzberg. Er befährt die Oranienstraße. Sie gilt als Szenebereich, dessen Besuch leider inzwischen in zu vielen Reiseführern empfohlen wird. Am Heinrichplatz sitzen auch in kalten Jahreszeiten Gäste vor den Cafés. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus vor vier Jahren errang die PDS hier die meisten Stimmen im Westteil der Hauptstadt. In der multikulturellen Szene zwischen Antiquariaten, Cafés, Imbissen, Buchläden, beherrschen mit Kopftüchern und wadenlangen Mänteln verhüllte Frauen auf den Gehwegen das Bild. Hier unterhält der Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele ein Bürgerbüro. An der Oranienstraße gibt es für intelligente nicht vereinsgebundene Berliner einen Fanshop des FC St. Pauli. Der Laden ist nicht sehr frequentiert.

Nach der Fahrt durch diesen Kiez ragt auf der Strecke vorn das Hochhaus des Springerverlages in den Himmel. Oben an dem Medienturm wirbt das Unternehmen für seine Blätter „Hör Zu“ und „Welt“. Nach dem Verleger wurde eine Straße benannt. Weiter fährt die Linie M29 über die Kochstraße, an der sich „taz“ und Springerverlag fast gegenüberliegen. Die Mehrheit im Bezirksparlament beschloss vor einiger Zeit, einen Teil der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße umzubenennen. Verständlich, dass man das im Hause des rechtskonservativen Verlags nicht gern sah. Aber Springer lässt andere für sich agieren – so startete die CDU eine Unterschriftensammlung gegen die Rudi-Dutschke-Straße. Medienwirksam trug sich Friedbert Pflüger, Kandidat der CDU gegen  Klaus Wowereit, in die Liste ein. Vor Wochen noch schrieb das Springerblatt „B.Z“ über Pflüger, er fordere von seiner Frau, die er wegen einer Geliebten verließ, einen Ausgleich von 150.000 Euro.

Die Ereignisse während des Mordanschlags auf Rudi Dutschke hielt der Schriftsteller Karlshans Frank in seinem Roman „Willi kalt und heiß“ so fest: „Ostern 1968 – physische Auferstehung der APO. BILD hatte lange genug vorher Übertreibungen, Halbwahrheiten und Unwahrheiten berichtet, Hass gesät, Dumpfheit gerührt, Sand in Augen gestreut, Dummheit zum Schwingen gebracht. Einer war ein besonders guter Resonanzboden gewesen. Am Gründonnerstag führte er aus, was die Springers selbst nicht tun mochten ... Am Gründonnerstag wurde Rudi Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt.“

Der Bus hält nahe dem Checkpoint Charlie, der zu einer Art Rummelplatz verkommen ist. Wo sich einst Panzer aus den militärischen Blöcken kriegerisch bedrohlich gegenüber standen, posieren als Soldaten verkleidete Schauspieler für Andenkenfotos. Der M29 fährt weiter in Richtung der alten Westberliner City. Von einem Haltepunkt aus sind die modernen Hochbauten des Potsdamer Platzes zu sehen, sie vermitteln einen Hauch von New York. Am Landwehrkanal passiert der Bus historische Stätten. Aus dessen Wasser wurde die Leiche der ermordeten Rosa Luxemburg gezogen, ein Gedenkstein erinnert an die Frau. Dann erreicht der Bus die Gedenkstätte deutscher Widerstand im ehemaligen Bendlerblock. Dort wurden am 20. Juli 1944 Graf von Stauffenberg und andere Offiziere von den Nazis ermordet. Direkt daneben liegt die Berliner Außenstelle des Bundesministers für Verteidigung. Bei Besuchen ausländischer Minister sind aus dem Bus die Aufmärsche des Wachbataillons der Bundeswehr zu sehen. So mancher fragt sich amüsiert, warum so weit vom Meer entfernt Marinesoldaten strammstehen. Der M29 macht vor der Bundesgeschäftsstelle der CDU einen Bogen nach links Richtung Schöneberg. Bis vor wenigen Wochen war die Vorderfront des Hauses mit einen riesigen Porträt der durch technische Tricks verschönten Angela Merkel überzogen. Nun ist sie am Ziel und das Foto wurde endlich abgenommen.

Der Wittenbergplatz nahe dem KaDeWe ist ein Umschlagplatz: Viele Fahrgäste verlassen hier den M29, auch der Drang in den Bus ist an dieser Haltestelle stärker als an den bisherigen Haltepunkten. Am Wittenbergplatz unterhielt Hitlers Halbbruder während der Regentschaft des Familienmitgliedes ein gut gehendes Restaurant. Der Halbbruder war einst Kellner, nach der Machtergreifung nutzte er die Gunst der politischen Lage und eröffnete das Lokal. Sein Blutsverwandter half ihm, den jüdischen Besitzer des Restauranthauses zu enteignen. In der Schlacht um Berlin wurde das Gebäude total vernichtet. Am Platz bietet ein Budenbesitzer Biobratwurst. Zur Eröffnung kam die damalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast und biss werbewirksam vor den Fotografen in ein Würstchen. Es beginnt die Tauentzienstraße.   

Trotz Konkurrenz von der Friedrichstraße ist die Tauentzienstraße auf der Höhe des KaDeWe in Spitzenzeiten belebter als der Zugang ins Olympiastadion. Im Mai 2005 wurde der Besucherstrom per Zählmaschine gemessen: Am Kurfürstendamm waren es 4.000 Menschen pro 60 Minuten, in der Friedrichstraße 1.400, vor dem KaDeWe aber 11.000. Vor den Fahrgästen erhebt sich der Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Nachdem sie passiert ist, stochert der Busfahrer seinen Doppeldecker durch den Verkehr über die Touristenmeile Kurfürstendamm. An ihm liegen „Die Komödie“ und das Berliner „Theater am Kurfürstendamm“. Einst von Max Reinhardt gegründet, ist ihre Existenz gefährdet. Ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank kündigte den Theatern zum Jahresende den Mietvertrag. An deren Stelle soll ein Einkaufszentrum gebaut werden. Seit Monaten protestieren Berliner gegen den geplanten Kahlschlag. Judy Winter, Hans-Jürgen Schatz und das Spree-Urgestein Edith Hancke hatten die pfiffige Idee, der Senat möge die Theater unter Denkmalschutz stellen. Damit würde der Abriss unmöglich gemacht. Zurzeit ist der Kurfürstendamm vor den Theatern ein Prominentenprotesttreff. Auch der konservativ ausgerichtete „Tagesspiegel“ brachte deshalb eine Kapitalistenschelte: „... wenn allerdings das Kapital – wie an den Ku’damm-Bühnen – verrückt spielt und rüpelhaft versucht, quicklebendige Traditionen auszulöschen, muss SOS gefunkt und gehandelt werden. Politisch. Ganz oben.“ Ob die von dem Blatt so gehätschelte Merkel gemeint war, bleibt unklar.

ICC

Der M29 erreicht den oberen Teil der Kurfürstendamms. Er fährt an dem wohl bekanntesten Sprechtheater von Spree-Athen, der „Schaubühne“, vorbei. Die Zusteigenden sind meist elegant gekleidet, es ist ein anderes Publikum als in Neukölln und Kreuzberg. Am S-Bahnhof Halensee ist der Ku’damm nur noch im Rückspiegel zu sehen. Rechts erblickt der Fahrgast das einem riesigen Raumschiff ähnelnde, immer noch modern wirkende ICC, dahinter ragt der Funkturm aus den dreißiger Jahren in den Himmel. In seiner Autobiografie „Es wird Abend“ beschreibt Otto Flake, wie an der Station Halensee 1934 ein uniformierter Hitlerjunge einen alten bärtigen Juden ohrfeigte, und alle gingen weiter, als hätten sie nichts gesehen.

Ab Rathenauplatz durchfährt der M29 eine vornehme Villengegend. In einer der Nebenstraßen wurde der Reichsaußenminister Walter Rathenau von Rechtsradikalen ermordet. Grunewald ist erreicht. In der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik wohnten hier Industrielle. An diese Zeit erinnert sich Nicolaus Sombart in „Jugend in Berlin“, erschienen 1986: „... eine außerordentlich privilegierte Kindheit. Sie war bürgerlich im besten Sinne des Wortes. Meine Eltern waren nicht reich, aber ein gewisser Wohlstand war das Selbstverständliche, über das man nicht sprach. ... Was mir heute besonders phantastisch erscheint, war der Luxus an Raum (an Quadratmetern), über den vier Menschen ... verfügten. Da gab es Zimmer, die man tagelang nicht betrat.“ Und es war üblich, Dienstboten zu beschäftigen. In der Gegenwart können sich kaum noch Berliner solche Häuser leisten, viele Villen sind zu Eigentumswohnungen umgewidmet worden. Es gibt noch einige Residenzen von Botschaftern, kleinere Länder unterhalten in den Häusern ihre Vertretungen. Die Endstation Rosenthaler Platz ist nahe. Der M29 fährt über die Herthastraße an einem Fußballplatz vorbei. Die Straße gilt wegen der schlechten Spielweise von Hertha Berlin zurzeit nicht als gute Adresse. Doch dort spielt die Hertha nicht, in der gepflegten Anlage kicken die Mannschaften des Berliner Sportclubs. Die Hertha erhielt ihren Namen auch nicht wegen der Straße. Als der Verein gegründet werden sollte, saßen junge Männer an der Jannowitzbrücke und diskutierten, wie ihr Club denn heißen solle. In dem Moment fuhr ein Fahrgastdampfer an ihnen vorbei, der Hertha hieß.

Der Bus hat auf seiner Tour Neukölln, Kreuzberg, Tiergarten, Schöneberg, Charlottenburg und Grunewald durchfahren. Der Fahrer schaffte die Tour in 58 Minuten. Sie kostet 2,10 Euro. Nahe dem Endhaltepunkt fällt inmitten der Villen ein Gebäude wie aus Tausend und einer Nacht auf: Es ist die Botschaft von Katar. Das in der Nähe von Klein-Arabien liegende „Wiener Caffeehaus“ am Rosenthaler Platz ist gegen elf Uhr bis auf einen Platz gefüllt. Es sind reiche Nichtstuer, die ihre von anderen erarbeiteten Renditen schon um diese Tageszeit mit Sekt begießen.

Die Botschaft von Katar

Allee für die Tussi

Februar. „Stadtforscher“ nennt sich eine Gruppe aus sieben Personen. Sie wollen Stadtführungen durch die Hauptstadt anbieten und begannen ihre Arbeit auf Berlins kürzester Allee – der Tusneldaallee. Sie ist 50 Meter kurz, an ihr wohnt nur Gott, wie einer der Stadtforscher sagte. In der Tusneldaallee steht die Heilandskirche. Allee und Gotteshaus bilden Extreme: Mit 87 Meter Höhe ist der Kirchturm nicht nur höher als die Straße lang ist, er ist der höchste von Berlin. Wohnhäuser gibt es dort nicht. Benannt ist die Allee nach der Frau des Arminius, der als Hermann der Cherusker mit der Schlacht am Teutoburger Wald in die Geschichte einging. Über Jahrhunderte blieb wegen des Helden der Name Tusnelda positiv besetzt. Irgendwann änderte sich das und dann wurde daraus die Tussi. Ganz so schlimm scheint es mit Tusnelda an der Spree nicht zu stehen, denn die „Münsterländische Volkszeitung“ berichtete im Oktober 2005 nicht ohne Stolz, es gebe dort den FC Tusnelda Berlin. Die Westfalen setzen aber auf ihren Mann, den Cheruskerfürsten. Dort kickt der Fußballclub Cheruskia Laggenbeck. Arminius, wie der Feldherr damals hieß, stand Pate bei der Namensgebung von Arminia Bielefeld, Arminia Ochtrup oder Arminia Gronau.

 

Zitate

„Verlässt Hertha nie mehr Platz fünf?“, fragte die Berliner Zeitung am 7. Februar und höhnte: „Möglich. Die Mannschaft hat sich dort derart behaglich eingerichtet, dass sie nur ungern weichen würde. Zur Sicherung ihres fünften Platzes hat sie zum Beginn der Saison einen streng geheimen Zwei-Phasen-Plan entwickelt. Phase eins (Vergrößerung des Rückstandes auf Platz vier) funktioniert. Phase zwei sieht den Erwerb eines Vorsprungs auf Platz sechs vor. Da hakt es noch. Jemand sollte Hertha mal sagen, dass es für ein Remis nur einen Punkt gibt.“

„Berlin ist ganz neu, die neueste Stadt, die mir je vorgekommen ist.“ Mark Twain 1891.

Straßenbahnfahrt durch Ostberlin Mitte der 80er Jahre: „... rein in die Kastanienallee, wo es enger wird, dunkler, Putz platzt wie Rinde an den Fassaden, blüht, und an diesen Borken ebenso wie an den Einschusslöchern halten sich Dreckbatzen von vierzig Jahren, von fünfzig, von sechzig, das Trottoir wellt sich, Pflaster wechselt mit Pfützen und Erde, dicht an den Kellerfenstern wächst manchmal auch Gras, krachend und quietschend, die Klapperkiste fährt weiter, rechts, immer rechts, Invalidenberg runter. Irgendwann, wenn in den Querstraßen schon ab und zu ziemlich weit oben ein Kirchturm zu sehn ist, vergoldet, mit einer Kugel ganz oben, vergoldet, erscheint und verschwindet, steigt sie aus, in den Häuserreihen der Innenstadt, grau verputzt, nachgedunkelt, aber richtig schwarz nicht, schwarz wird es erst in der Erinnerung. Soweit war sie gestern, soweit ist sie heute noch nicht, heute, jetzt, ist sie erst am Rosenthaler Platz.“ Irina Liebermann: In Berlin, Roman.

„... und den 13 430 Zuschauern, die am Mittwochabend zum Uefa-Cup-Spiel gegen Rapid Bukarest ins unwirtliche Olympiastadion gekommen waren, ein angemessenes Schmerzensgeld auszahlen. Zu sehr und zu lange quält die Mannschaft inzwischen ihre treuen Anhänger.“ Die Berliner Zeitung vom 16. Februar 2006 über Hertha Berlin.

„Ganz Berlin hat 133 Straßen, und selbige werden von den Gassen, deren wir 91 haben, unterschieden.“ Aus einem Lexikon des Jahres 1806. Zweihundert Jahre später werden für die Hauptstadt 14.000 Straßen und Plätze geschätzt. Sicher ist, dass innerhalb den Stadtgrenzen 5.341 Kilometer asphaltiert sind.

„Ich weiß, jetzt mache ich mich wieder unbeliebt, aber es ist mir einfach zu dreckig.“ Die Schauspielerin Alexandra Neldel über den Szene-Kiez Prenzlauer Berg.

„Hier fühle ich mich manchmal wie in Paris. Da sind Straßenzüge, die sind wie Klein-Paris.“Das sagte sie über Charlottenburg.

Bahnhof Wannsee

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors.

[Home] [Biografie] [Werkverzeichnis] [Rezensionen] [Leseproben] [Hörbücher] [Berliner Notizen] [Kontakt] [Impressum] [Links] [Aktuell im Angebot] [Neu]