Hans Dieter Baroth - Home

Berliner NotizenBerliner NotizenBerliner Notizen

September 2007

Drucken

 

Hertha vom Fluss

September. „Der zweitälteste Klub der Bundesliga, Hertha BSC, sucht seine Vergangenheit. Den Dampfer ‚Hertha‘ mit seinen blau-weiß gestreiften Schornsteinen, der 1892 bei der bierseligen Vereinsgründung zum Farb- und Namenspaten wurde, hat man nach der Wende auf einem Brandenburger See gefunden.“ Das schreibt der „Tagesspiegel“ am 16. September. Historisch belegt ist, an der Jannowitzbrücke schauten junge Sportler auf die Spree. Sie suchten einen Vereinsnamen für ihren gerade gegründeten Fußballklub. In dem Moment schipperte der Ausflugsdampfer Hertha vorbei. Der Kahn liegt in der Gegenwart auf Gewässern nahe Königs Wusterhausen. Dass die jungen Männer bierselig waren, ist nicht bewiesen. Unter der Brücke an dem lang gestreckten Bahnhof namens Jannowitzbrücke fahren in der Gegenwart mit Sicherheit in kürzeren Abständen Ausflugsdampfer vorbei als 1892. Berlin ist eine Touristenhochburg geworden. So mancher Schiffsführer lässt aus der Hupe ein kurzes Signal als Ehrung an die Hertha hören. Von der Brücke sprang in den dreißiger Jahren der junge Bursche und spätere Schauspieler Günther Lamprecht in die Spree, um sich mit seinem Wagemut bei Touristen „einen Sechser“ zu verdienen; wie in Berlin der Groschen genannt wurde. Dem Bahnhofsgebäude gegenüber, durch die Spree getrennt, lag das Verwaltungsgebäude des FDGB der DDR. Der Vorsitzende Harry Tisch verfuhr bis zu seinem Sturz hier seine letzte Schicht. Am 8. November 1989 trat er als Mitglied des Politbüros zurück. Inzwischen befindet sich in dem grundsanierten Gebäude die Botschaft der Volksrepublik China. Ob von hier Hacker versucht haben in die Festplatten des Bundeskanzleramtes zu kommen, bleibt unklar. Zumindest steht fest: Die Chinesen glaubten, in Merkels PC stünde was Wichtiges. Nahe der Botschaft unterhält ein Wirt sein Chinalokal, das von den Angestellten der Botschaft kaum besucht wird. Wahrscheinlich ist ihnen das chinesische Essen dort nicht gut genug. Bis einige Jahre nach dem Untergang der DDR gab es in dem Bahnhofsgebäude ein Restaurant mit Terrasse zur Spree. Sicherlich auch, weil das Personal sich nicht auf die Marktwirtschaft einstellte, erfolgte die Höchststrafe, es ging pleite. Erzählt wurde, wer sich als junge Frau ein Getränk bestellte, bekam es als Rentnerin schal serviert. Der ehemalige Herthaspieler Axel Kruse versuchte es in den Katakomben des alten Gebäudes mit einem Sportcafé. Darin war die Atmosphäre locker, auf großen Bildschirmen wurden Sportereignisse aus aller Welt übertragen – doch an der Jannowitzbrücke gibt es neben ein paar Plattenbauten kaum ein passendes Umfeld – der Kicker gab auf. Ein Gemüsehändler im Innern auch. Hier erlebte ich im am Zeitungskiosk des Bahnhofs im Frühjahr 1990 den Wechsel der Kunden von einer Agitation auf die andere: wie im Osten gewohnt standen die Menschen geduldig in der Schlange, „Neues Deutschland“ blieb unbeachtet, im doppelten Sinne des Wortes erstanden wurde die Bild-„Zeitung“. Der Andrang auf das Blatt hat nachgelassen. Das Angebot im Kiosk ist bunter geworden, ob informativer, bleibt offen. Eine Bäckereifiliale hat sich ebenfalls gehalten, hier kaufen Büroangestellte oder Bauarbeiter morgens ihre Brötchen, die in Berlin Schrippen heißen. Wenn oben in die Bahnhofshalle mal keine S-Bahn einrollt, sind die Schiffsmotoren der Lastkähne auf der Spree zu hören. 

S-Bahnhof Jannowitzbrücke

Berliner Mauer

September. „Niemand hat vor eine Mauer zu bauen“, rutschte es am 15. Juni 1961 Walter Ulbricht heraus. Freud hatte mit dem dicken Hammer zugeschlagen, denn er plante eine bauen zu lassen. Am 13. August wurde der Bau begonnen, 3,60 Meter hoch und 155 Kilometer lang sollte sie werden. Sie trennte von 1961 bis 1989 Berlin in zwei Teile. Die Bauarbeiter müssen sich an dem hässlichen Werk verausgabt haben. An der Berliner Bruno-Wille-Straße steht zur Einfriedung eines Hauses seit 1936 eine kniehohe Mauer als Zaunsockel. Sie überstand unbeschadet die Nazizeit und fast noch den Staat der Arbeiter und Bauern. Zu Beginn des neuen Jahrtausends waren an etlichen Stellen die Abdeckungen und der Putz abgebröckelt. Die Mauer sollte saniert werden.

Erster Akt: Die Reste der Abdeckung und des Putzes werden entfernt, die Mauer erhält eine neue Abdeckung und einen neuen Putz. Zweiter Akt: Der Putz platzt schon im ersten Winter ab und wird erneuert. Dritter Akt: Der Putz platzt im nächsten Winter wieder ab. Der Bauunternehmer ist pleite. Vierter Akt: Ein neuer Bauunternehmer empfiehlt den Abriss der Mauer und die Herstellung aus Beton. Fünfter Akt: Die Schalung der neuen Mauer wird zu früh entfernt, der Überstand bricht teilweise ab. Sechster Akt: Mehrere Male rücken Handwerkertrupps an, um die Mauer auszubessern, jedes Mal brechen nach kurzer Zeit wieder Teile ab. Siebter Akt: Mit einem Architekten wird eine Zinkblechabdeckung als Lösung des Problems ausgetüftelt. Achter Akt: Der beauftragte Unternehmer lässt einen Subunternehmer eines Subunternehmers ein Muster für die Zinkblechabdeckung herstellen. Dies misslingt vollständig. Neunter Akt: Der Subunternehmer behauptet, die Abdeckung sei nicht so herzustellen, wie der Architekt sie verlangt. Er würde lieber vom Auftrag zurücktreten. Zehnter Akt: Das Angebot, vom Auftrag zurückzutreten, wird angenommen und die Entfernung der missratenen Abdeckung angemahnt. Elfter Akt: Die Abdeckung wird nach mehrfacher Mahnung teilweise entfernt. Zwölfter Akt: Die Bauherrin lässt einen Minijobber die Mauer ausbessern … Wenn das der Ulbricht wüsste!

Brillenmacher

Kiez ohne Kinder

September. Gewagt ist die Farbzusammenstellung der Möbel in Rot und Violett schon. Doch sie beeindruckt Kunden des Optikers „Brillenmacher“ nahe dem Kurfürstendamm. An der Schaufensterfront führt die Leibnizstraße vom Boulevard Kudamm hin zum Leibnizplatz, der, wäre das Wetter besser, suggerierte in Mailand zu liegen. Im Angebot dieses Kiezes ist eher der gehobenen Bedarf oder: von den Auslagen in den Geschäften wird im Prinzip wenig gebraucht. Anders ist es mit Brillen. Beim Optiker „Brillenmacher“ kauften Walter Momper und Richard von Weizsäcker, Leslie Malton, Grit  Boettcher, Wolfgang Völz und Dieter Hallervorden. Nicht mehr zu den Kunden zählen Diether Krebs, Kohls ehemaliger Regierungssprecher Peter Boenisch, Günter Pfitzmann und Hildegard Knef. „Bei Kindern fehlt es hier an Klientel“, sagt der freundliche Optiker beim „Brillenmacher“. Der Betrieb trägt den Namen irreführend, Brillengestelle werden fertig geliefert. In einer so teuren Gegend mit Wohnungen über Geschäften mit hochpreisigen Auslagen mieten sich Eltern mit Kindern kaum ein. Im Kiez sind am späten Nachmittag nirgendwo spielende Kinder zu sehen. Der zweite Test belegt es: „Leibniz-Optik“ wenige Meter weiter in der Leibnizstraße 60: „Kinderbrillen“, sagt der aus Recklinghausen stammende Optiker ohne Zögern, „habe ich nur sehr wenige an Lager.“

 

Berliner Charme

September. „Wohin fährt die Bahn?“, ruft eine ältere Frau in der späteren Morgenstunde auf dem Bahnhof Alexanderplatz den hastig an ihr vorbei eilenden Menschen zu. Keine Antwort. Die Türen der Bahn sind geöffnet, soeben sind viele Fahrgäste ausgestiegen, nun drängen andere hinein. Am Revers trägt die Frau ein großes Abzeichen: Gelber Untergrund mit drei schwarzen Punkten. Sie ist keine ausgezeichnete Anhängerin von Hertha Berlin, die Reisende kann das Hinweisschild der Bahn nicht erkennen. „Wohin fährt die Bahn?“ Ihre Rufe werden lauter und hören sich nach Verzweiflung an. „Wohin fährt die Bahn?“ Keine Antwort, für einige Menschen steht die Behinderte sogar im Wege. „Nach Spandau“, rufe ich ihr zu. Sie sucht mühsam nach der noch geöffneten Tür der S-Bahn und schafft es in den Zug. Ob ein erheblich jüngerer Mensch ihr in dem Waggon seinen Sitzplatz anbieten wird, daran zweifle ich aus Erfahrung.

 

Tipps für Touristen

September. Touristen müssen in den S-Bahnen nicht zu ihrer Orientierung mühsam die Namensschilder der Bahnhöfe suchen. In die Stille eines Stopps klingt es in S- oder U-Bahnen von einem Spree-Athener zu laut in sein Handy: „Ich bin gerade an der Warschauer Straße“ oder „Ich bin gerade am Savignyplatz.“ Was dann ebenfalls zu laut in das Gerät gegrölt wird, ist weitere akustische Umweltverschmutzung. Nicht hinhören!

 

Kostenlos kosten

September. „Möchten Sie eine Tüte“, fragt eine Angestellte im grünen Kittel. Überwiegend grün ist auch die Papiertüte der Biomarktkette „Alnatura“. Auf dem Boden der Einkaufstüte liegt ein Täfelchen Bioschokolade. In Charlottenburg wurden zum Monatsende die „Wilmersdorfer Arcaden“ eröffnet. Schnäppchenjäger und Umsonstfresser quirlen durch die hellen Gänge. Ein Mann nimmt die Tüte mit der Schokolade entgegen, nestelt die Schokolade heraus, kostet sie kostenlos. Danach stellt er sein Tütchen auf ein Regal. Weniger Meter hinter dem Eingang wird Obst angeboten, kleine Häppchen sind es, mit Zahnstochern aufzuspießen. Eine ältere Frau probiert nicht, sie frisst. Und sie baut sich so auf, dass kaum andere Kunden an den Obsttrog kommen. Eine Art Ferkelreflex am Trog. Doch der Mann ohne Tüte schafft es auch kostenlos zu kosten. Nach ausführlichem Obstkonsum schlendert er zur Brottheke, hier gibt es Backwaren, die kostenlos probiert werden können. Er nimmt mehr als nur was zur Probe. Danach verlässt der Kunde über den Kassenbereich den Markt von „Alnatura“, kommt wieder von vorn herein und ergattert in der neuen Papiertüte das zweite Täfelchen Schokolade. Und verzehrt es. Später erobert er zwischen den Regalen noch einen Napf mit Rosinen, mehrere Mal greift er hinein und „kostet“. Dem Süßen folgen salzige Kartoffelchips. Eine schlechte Auswahl, aber die sah er zu spät. Der von mir beobachtete Mann traut sich aber nicht in den Bereich sich edel fühlender Genießer auf Kosten des Unternehmens – am Weinstand mit Tropfen aus dem Württembergischen schlürfen die Studienräte und Gutverdiener. Es sind überwiegend Männer. Das Weinglas in der Hand sagt die Körperhaltung: Bier trinken die Prolls. Die sind wir nicht. Wir haben den Durchblick. Auffallend viele der Männer tragen ihre Pullover über die Schultern gelegt. Der eine oder andere wird sie mit Stecknadeln befestigt haben. Es sind Alt-68er darunter, die beim Marsch durch die Institutionen als Lehrer in den Gymnasien hängen geblieben sind. Die meisten wären in der FDP, hätte es Rudi Dutschke nicht gegeben.

 

Freundliches bei Sibylle

September. „Ich mache Ihnen gern ein frisches Baguette“, sagt der Kellner im Café Sibylle an der Frankfurter Allee. Einst hieß sie Stalinallee. Von hier aus sollte baulich der Aufbruch in eine neue Zeit beginnen. Die Bauten aus der Stalinära sind noch vorhanden, von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung endlich saniert und wieder ansehnlich. In einer Glasvitrine liegen in Zellophanpapier gewickelte Baguettes. „Die sind schon verkauft“, sagt einer aus der Bedienung. „In einer Stunde bekommen wir Gäste.“ Es könnten Dänen oder Niederländer sein, genau weiß das nur der zurzeit abwesende Geschäftsführer. "„Die Gäste schickt uns das Bundespresseamt.“ Zu Touren durch die frühere Hauptstadt der DDR gehört auch ein Aufenthalt im Café Sibylle. Das Mobiliar stammt aus der Zeit des Staates der Arbeiter und Bauern. Plakate der SED hängen an den Wänden. Über Telefone sind Berichte von Augenzeugen zu hören. An einem Tisch sitzt ein Mann, der wohl noch mit Walter Ulbricht bei der Jugend der KPD gewesen sein könnte, ein Veteran aus der Aufbruchphase der DDR. Der Greis scheint regelmäßig zu kommen, er bekommt sein Getränk serviert, ohne es vorher bestellt zu haben. Das sind Privilegien von Stammgästen. „Darf ich den Teller abräumen“, fragt eine junge Servierfrau. Der Milchkaffee war sehr gut. Das Personal ist so freundlich, es fiele sogar im Rheinland positiv auf. Ein Kellner raucht in der Nähe der Toilette. Er berichtet, sie alle arbeiteten im Rahmen von „Eingliederung“. Das verstehe ich nicht. Sie alle seien krank gewesen, nun würden sie in den Arbeitsmarkt eingegliedert. So wie bei Sibylle die Gäste bedient werden, haben sie durchweg gute Chancen.

 

Zitate

„Berlin ist sehr dörflich, aber auch sehr großstädtisch“, sagt der Schriftsteller Wladimir Kaminer. Sein Wohngebiet zwischen Schönhauser Allee und Mauerpark beschreibt er: „Viel schwul, viel Thai, viel Kino.“

„Eine proletarische Einkaufsmeile.“
Filmregisseur Dani Levy über die Hauptstraße von Schöneberg

„Ich glaube nicht, dass Sie in Europa eine hässlichere Situation vorfinden wie hier“.
Der Berliner Kunstförderer

„Er ist schnell, zielgerichtet, für Menschen gebaut, die es eilig haben.“
Peter Raue über den Potsdamer Platz.

„Wenn ich mit meinen Söhnen durch Kreuzberg ziehe, dann erkennt mich da kein Mensch, jedenfalls kein Türke oder Libanese. Ich kann völlig ungestört lustwandeln. Das finde ich privat gut. Es zeigt aber auch, dass solche Kieze Terra incognita für die ‚Abendschau‘ sind.“
Friedrich Moll, nach 17 Jahren als Moderator der Berliner Regionalsendung „Abendschau“

„Ich habe kein Problem mit Berlin.“
Kurt Beck, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz

„Die Stadt Berlin hat viele Gesichter und ist kunterbunt.“
Avilva Messener, Riga (Lettland)

„Nach Lichtenberg werde ich auf gar keinen Fall ziehen, weil meine Tochter jetzt mit einem Schwarzen zusammen ist.“
Wolf Biermann, der von Hamburg nach Berlin ziehen möchte und in Mitte eine Wohnung sucht

„Berlin ist die romantischste Stadt der Welt.“
Jodie Foster

„Berliner sind schlecht gekleidet, am liebsten tragen sie Trainingsanzüge.“
Thilo Sarrazin, Finanzsenator von Berlin

„Verglichen mit London ist Berlin natürlich klein und übersichtlich, es hat fast Dorfcharakter.“
Heike Makatsch

 

Berliner Bilderbogen

„Wir machen Urlaub, bereisen fremde Städte und begreifen nach einer Weile, warum sie uns so gefallen: Keine Krakeleien, kein Geschmier. Dann wieder Berlin: Die S-Bahn fährt in Wittenau an einer noch nicht ganz fertigen Reihenaussiedlung vorbei, die Lärmschutzwand wird gerade montiert und ist schon von oben bis unten von jenen lähmend idiotischen Krakeleien bedeckt, mit denen Jugendliche die Stadt vollkoten wie Hunde eine Grünanlage. Man sinkt zurück in den Sitz – und blickt auf die zerkratzte Scheibe.
Es ist zum Verzweifeln, und keiner weiß ein Gegenmittel. Warum Berlin? Ist es der Ruf der kreativen Metropole, der derlei Auswurf einen fadenscheinigen Hauch von Untergrundkunst verleiht?“
Redakteur Bernd Matthies im „Tagesspiegel“. Für diese Bildauswahl wurden 15 Minuten gebraucht; es sind nicht alle Fotos dieser Viertelstunde.

Schmierereien

Schmierereien

Schmierereien

SchmierereienSchmierereien

Verwendung nur mit Zustimmung des Autors.

[Home] [Biografie] [Werkverzeichnis] [Rezensionen] [Leseproben] [Hörbücher] [Berliner Notizen] [Kontakt] [Impressum] [Links] [Aktuell im Angebot] [Neu]