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April 2008

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Vom Fluss der Tränen

April. Es ist so, als fahre jemand mit einer handlichen Kreissäge unsystematisch in die Knochen meiner Schulterblätter. Immer wieder, immer wieder. Zusätzlich sticht jemand mit einem Fahrtenmesser in den rechten Oberarm. Hier stimmt der Ausdruck, die Schmerzen sind unerträglich. Ein Anruf in der Orthopädiepraxis Dr. med. H. Brandt & D. Brandt (030/64094066): Der nächste Termin wäre im Juni. Es sei aber möglich, montags unangemeldet zu kommen. Kurz nach acht Uhr bin ich in der Praxis. Die Kreissäge wird weiter eingesetzt. Eine Ansammlung von Patienten und/oder Leidenskonkurrenten nimmt an dem Neuen optisch Maß. Die recht kompakte Sprechstundenhilfe erklärt mitleidslos: „Heute sind schon genug hier.“ Ich könnte es am Donnerstagnachmittag versuchen, da müsste ich aber eine dreiviertel Stunde vor Öffnung der Praxis „anstehen“. Stehen! „Wo denn?“ Sie zeigt mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Tür und knurrt: „Da draußen im Flur auf der Treppe.“ Es könnte für die Menschen im Wartezimmer der Eindruck entstanden sein, sie hätte mich gerade aus der Praxis gewiesen. Ich verstehe, dass viele Ostdeutsche die DDR nicht mehr wollten, ich verstehe nicht, dass sie es sich gefallen lassen, so behandelt zu werden, als gebe es noch den Staat der Arbeitern und Bauern. Durch das Verhalten der Frau fühle ich mich gedemütigt. Auf dem Weg in die Wohnung kann ich meine aufkommenden Tränen nicht mehr unterdrücken. Als Kind werde ich zuletzt auf der Straße geweint haben. Zum Glück treffe ich auf keinen Bekannten. Zu Hause erzählt mir ein Nachbar mit Arthrose in der Hüfte, er habe sogar eine halbe Stunde auf der Treppe im Hausflur gestanden und sei nach dem Betreten der Praxis nassforsch abgefertigt worden: „Für heute haben wir schon genug Patienten.“ Über das Internet wird ein Orthopäde im ehemaligen Westteil gesucht. Ein Anruf, die Schilderung der stechenden Schmerzen, noch am Nachmittag wird ein Termin freigeschaufelt. Auf dem Weg zur S-Bahn spricht mich eine ehemalige Opernsängerin an. Die Frau geht am Stock. Sie muss mich in der Praxis gesehen habe. Die alte Dame berichtet, dass sie, sich auf ihren Stock stützend, wiederholt im Treppenhaus der Praxis Dr. med. H. Brandt & D. Brandt „sehr, sehr lange“ habe „warten müssen“. Sie empfiehlt mir einen anderen Arzt im Stadtteil. Ich möchte nicht und rufe ihr auf dem Weg zum S-Bahnhof zu: „Ich fahre nach Charlottenburg, in ein anderes Kulturgebiet.“ Wieder eine Frau, die mich nicht versteht.

 

Szenen im Café

April. Das Café „Mauna Kea“ in der Bölschestraße zieht die sich bürgerlich fühlenden Ostaufsteiger oder Touristen an. Es hat eine alternative Küche, guten Kuchen, aber zu wenige Zeitungen im Angebot. In einem Raum war früher ein Antiquariat, deshalb ziert eine imposante Bücherwand diesen Bereich. Hier ließe es sich genießen. Mein Tisch ist der Beobachtungsstand. Schräg gegenüber langweilt sich der kleine Köter einer Frau. Von Zeit zu Zeit begehrt er auf und macht Männchen, um mit seinen Vorderpfoten Frauchens Oberschenkel zu betapsen. Mit der rechten Hand streichelt sie ihrem Liebling jeweils das Fell. Mit derselben Hand rückt sie ihren Kuchen auf den Teller in Richtung Gabel, fährt sich durch den Mund und leckt wie Angela Merkel ihre Finger ab, berührt ein Kind auf der anderen Seite des Tisches. Ich habe nichts zu essen bestellt. Eine Ortsansässige wedelt mit einem Geldschein, was heißen soll: Bezahlen! Eng am Nebentisch sitzt eine als Szenefrau aufgemachte Enddreißigerin: Sonnenbrille ins Haupthaar geschoben, Kleidung ein Mix von Dritter-Welt-Aufmachung und geblümtem Kunstseidenrock über der Jeans, Stiefel eng wie einst bei den Offizieren der NVA. Sie mampft ein Stück Käsekuchen, schaut in ihr Taschenbuch, das sie auffällig hoch in der linken Hand hält und schlürft zwischendurch, auch für Alterschwerhörige gut wahrnehmbar, ihren Milchkaffee. Hiernach bestellt sie ein Stück Pflaumenkuchen. Mit einem hellen Laut saust ihr Kaffeelöffel auf den Fußboden. Was macht sie? Die als Intellektuelle Verkleidete sucht länger unter ihrem Tisch, legt den Löffel wieder auf den Tisch. Nach wenigen Sekunden glaubt sie sich unbeobachtet, nun nimmt sie den Löffel und rührt in der Tasse. Sie will wohl an der Kuchentheke bezahlen, springt auf, zwängt sich zwischen ihrem und meinem Tisch durch, versucht dabei, ihre Windjacke überzustreifen und zieht den unteren Saumbereich voll durch meine halb leere Tasse. Die sehr schlanke Frau schaut nur, ob ihre Jacke beschmutzt ist – was ich ihr gönnen würde – und zieht beruhigt zur Mitte des Cafés. Eine Belgierin behauptete, vielen Berlinern fehlten drei Wörter: Bitte, danke, Entschuldigung.

 

Berliner Charme

April. „Kann ich Ihnen helfen, junger Mann? Es klingt kurpfälzisch. Der Arzthelfer im Klinikum Benjamin Franklin stammt aus Mannheim. „Junger Mann, das ist doch wohl übertrieben.“ Er lacht. „In Berlin gibt es keine alten Berliner, es heißt hier grundsätzlich junge Frau, junger Mann.“ Darauf bauend begrüße ich drei Tage später im Ostteil eine Arzthelferin mit: „Guten Morgen, junge Frau.“ Sie schaut kurz auf: „Sie wollen mich wohl verscheißern, wat?“

Eigentlich wollte ich bei Kaiser’s einen Matjes kaufen. Doch davor liegen gehäuft in einer Schüssel Nordseekrabben. „So muss es bei einer Schwangeren sein“, sage ich zu der Verkäuferin, „wenn sie plötzlich Heißhunger auf was bekommt.“ Und ich bitte um Nordseekrabben. Wenn Blicke töten könnten, wären diese Notizen nicht mehr erschienen. Vom Alter her muss sie schon zu Erichs Zeiten Kunden missachtet haben.

Wenige Tage später erlebe ich Honeckers Abschied aus dem realen Kundenleben. Im „backshop“ bei Kaiser’s ist Bienenstich im Angebot. Mit der etwa vierzigjährigen Verkäuferin beginne ich auf der gleichen Basis freundlich zu plauschen. „Darauf bekomme ich Heißhunger wie eine schwangere Frau.“ Sie zeigt mir beim Lachen ihre gleichmäßigen Zahnreihen, weiß wie die Kacheln eines Luxusbades. „Leider kann ich Ihnen keine Gurke dazulegen.“ 

„Fährt der Bus an der Station Oskar-Helene-Heim vorbei?“ Ich bin als Kunde der BVG ihr natürlicher Feind und deshalb überrascht, dass der Fahrer der Linie X 10 freundlich antwortet. Er fahre die kürzeste Strecke nach dorthin.“Lassen Sie mal stecken“, sagt der am Steuer sitzende Mittfünfziger, während ich nach meiner Monatskarte nestele. So viel Freundlichkeit muss beantwortet werden. „Sehen Sie, so komme ich dumm rein und verlasse dann den Bus bestens informiert.“ In diesem Moment spüre ich einen Schlag gegen den Rücken, ich werde gegen die Trennwand zwischen Fahrer und Kunde gedrückt. Missmutig wie ein Ur-Berliner entfernt sich in das hintere Drittel des Busses ein Asiate. Ich folge ihm in dem mäßig besetzten Bus und sage: „Das unterlassen Sie künftig.“ Er scheint Student japanischer Herkunft zu sein. Im dialektfreien Deutsch bellt der Mann zurück: „Ich wollte durch.“ Es folgt mein zweiter Schlag, sehr laut sage ich ihm: „Ich wünsche keinen Körperkontakt mit Männern.“ Das sitzt. Auf den Weg zu meinen Platz fällt mir der Witz über eine Bäuerin auf dem Münchner Viktualienmarkt ein. Ein Japaner stieß gegen ihren Verkaufsstand. Sie schimpft: „Sau-Preuße, japanischer.“ Der Asiate ist für Berliner Verhältnisse sehr gut assimiliert. So wie er sich benahm, wird er wohl in der Hauptstadt geboren sein.

Es ist 10.50 Uhr. Erlebnisort ist das Café Einstein Unter den Linden. Als dieser Teil Berlins schon Hauptstadt war – der DDR -, wurde an der Stelle das Café Kisch betrieben, in dem sich meist die von der SED gegängelten Intellektuellen trafen. Der junge Kellner tritt an meinen Tisch. „Einen Café au lait, bitte.“ Für den beachtlichen Preis von 5,20 Euro. Der Servierer sieht mich an und fragt wie leicht beleidigt: „Essen nicht?“

Die Außentür zur Anmeldung in der Physiotherapiepraxis ist halb geöffnet. Wohl wegen der Sommertemperaturen im April. Die Offenhaltung scheint gewünscht, ich betrete den Raum. „Tür zu“, bellt die Angestellte an der Rezeption. Sie telefoniert, vom Ton her privat. „Heute kommen die rein, keiner schließt die Tür.“ Beschwert sie sich ins Telefon sprechend.

 

Ein Wolf in der City

April. In einem Touristenlokal an der Albrechtstraße sitzt ein grauhaariger Mann, der im Beruferaten vielleicht als Bürohengst aus einer Kleinstadt eingestuft würde. Die Albrechtstraße führt vom Bahnhof Friedrichstraße zur Charité. Das Restaurant wird deshalb gern von Touristen aufgesucht, weil sie bei Schnitzel oder Steak auf der richtigen Seite sind. Dem eher unauffälligen Mann gegenüber sitzt eine Frau, die mit ihrem Handy hantiert. Sie ist der Typ Managerin oder gut bezahlte tüchtige Büroleiterin. Sagte ich den vorbeihastenden Berlinern, der Mann im Restaurant sei Nordrhein-Westfalens Innenminister Ingo Wolf, FDP-Einpeitscher, die meisten hätten ungläubig abgewinkt. Und bei dem Zusatz, der sei auch Sportminister, hätten viele wohl gelacht. Ingo Wolf war vor diesem Staatsamt mal Oberkreisdirektor in Euskirchen. Das ist ihm anzusehen. Der Föderalismus macht es möglich, dass sich viele unbekannte Landesminister in Berlin tummeln. Fehlt die staatliche Aura, schrumpfen sie auf ein oft unauffälliges Normalmaß. So wie der Wolf in der City. Wäre Angela Merkel Verkäuferin in einer Bäckerei an der Albrechtstraße, könnten sie die meisten Kunden fünf Minuten nach dem Brotkauf nicht mehr genau beschreiben. Aber durch die staatliche Aura …

Gedächtniskirche

Ost-West-Angleichung

April. Bisher kannte ich das fast ausschließlich von Herrentoiletten im Ostteil: Nach dem Urinieren verlassen die Männer ohne ihre Hände zu waschen das Klosett. Am Tresen einer Kneipe greifen sie dann in das Salzgebäck und begrüßen oder verabschieden andere Gäste per Handschlag. Das ist geblieben, im Westteil kam es zu Veränderungen. Feldforschung betrieb ich auf der Toilette der Buchhandlung Hugendubel nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Hier verkehren eher Bildungsbürger als Handwerker oder Bauarbeiter. Ich halte mich länger als „nötig“ auf dem Besucherklosett auf. So mancher Bürger stürzt in den gefliesten engen Raum, einer muss „groß“, was zu hören ist, stünde die Toilette drei Meter weiter, wäre er um zwei Schritte zu spät gekommen. Ein Mann hastet danach aus seiner Kabine, die Hose gerade bis zu den Oberschenkeln hochgezogen. Bevor er aber in den Verkaufsräumen ist, schnürt er seinen Hosengürtel auf die Höhe der Taille. Ich halte mich sehr lange am Waschbecken auf, werde dort aber nicht einmal bedrängt, niemand will zusätzlich daran. Danach in dem weiträumigen Verkaufsbereich sehe ich die Ungewaschenen telefonieren, sie fummeln an Büchern herum und blättern darin oder sitzen im Café der Buchhandlung bei einem Espresso. Durch die großen weiten Scheiben scheint die Kirchenruine zum Greifen nahe. Nach 19 Jahren gleicht sich vieles an.

 

„Sportliches“ Denken

April. Nachbar und Tresenkumpel Reinhard behauptet seit Jahren, ich sei Anhänger des VfL Bochum. Und er scheint sich über jede Niederlage der Blauen zu freuen. Dass ich, durch die Entfernung nun nachlassender Fan des westfälischen Oberligisten Spielvereinigung Erkenschwick bin und starke Sympathien für Borussia Dortmund habe – die nicht nur wegen der Entfernung schwinden – erreicht ihn nicht. Dem Nachbarn das zu sagen, hat die gleiche Wirkung wie der ständige Aufruf von Politikern, Reisekader Angela Merkel solle „endlich“ mal ein Machtwort sprechen. An diesem Samstag spielt Hertha Berlin in Bochum. („Hie, ha, he, Hertha in die Spree.“) Nachbar Reinhard ist auf dem Weg zum Heimspiel von Union Berlin. „Heute wünsche ich von ganzem Herzen, dass Bochum gewinnt“, ruft er mir über die Straße zu. Es wurde nichts. In der Sonntagszeitung heißt es: „Vor 20 883 Zuschauer prügelten die beiden Torhüter die Bälle von Strafraum zu Strafraum, Kombinationsfluss fand selten statt, Chancen gab es auf beiden Seiten nicht.“ (1:1)

 

Zitate

„sei überraschend
sei erfolgreich
sei berlin.“
Werbeplakat für Berlin.

„An Berlin gefällt mir, dass es das dritte Berlin ist, das ich erlebe. An Berlin gefällt mir nicht: Wir haben noch immer kein richtiges Café.“
Die Schriftstellerin Irina Liebmann (64).

„In Berlin gilt eine ganz besondere Etikette: schnörkellos, ruppig, direkt.“ Und
„Indeed – das ist das Berliner ‚wa’! Denn das Berlinerische kennt keine blumigen Floskeln, keine Arabesken der Höflichkeit, von denen einem schwindlig wird. Wa und basta.“
Pascale Hugues von der Pariser Zeitung „Le Point“.

„ … der todlangweilige, sich endlos hinziehende Hohenzollerndamm mit seinen leicht bedrohlichen Mietskasernen und den zahllosen Praxen für Kieferchirurgie. Oder die Torstraße im Osten mit ihren vielen Clubs und Antifa-Punks. Die Straßen Berlins sind dermaßen lang und gerade, dass man meinen könnte, ein römischer Imperator hätte sie eigens für Wagenrennen bauen lassen.“
Roger Boyes, Berliner Korrespondent „Te Times“ in seinem Roman „My dear Krauts“.

„Das Roseneck war eine merkwürdige Ecke von Berlin, eine Oase demonstrativ zur Schau getragenen Wohlstands: ein schicker teurer Friseursalon, ein Küchenstudio für Frauen, die andere fürs Kochen bezahlten, und die Wiener Konditorei, wo die gut betuchten Anwohner ihre Cayenne Jeeps und Porsches abstellten, bevor sie sich um zehn Uhr morgens ihre Tüte Croissants zum Frühstück holten.“
Ebenda.

 

Makaber

„Manfred von Richthofen war der Popstar des Ersten Weltkriegs. Doch die Mythen um ihn verdecken: Es ging ums Töten, und das konnte er gut …“
Der Tagesspiegel vom 5. April 2008.

 

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