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Januar/Februar 2008

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Weniger Geruch im Ring

Januar. In der ersten Woche im Januar fallen mir am Mommsenplatz in Charlottenburg viele freie Parkplätze auf. Sind denn so viele im Urlaub? Nach einiger Zeit stelle ich fest: Wie bis 1989, nirgendwo ist hier ein geparkter Trabant zu sehen. Seit dem 1. Januar sind innerhalb des S-Bahnringes, der die Innenbezirke umfasst, keine Umweltverschmutzer mehr zugelassen. Somit sind die Stinker mit dem gelbbläulichen Qualm aus dem Auspuff verbannt. Bis Ende 1989 durften die nicht raus nach Charlottenburg, nun nicht mehr rein. Ironie der Geschichte, auch die frühere Stalinallee liegt innerhalb des Rings, so dass der Volkswagen der Arbeiter und Bauern selbst dort verbannt ist.

Trabi

Schlag auf Schlag in der Komödie

Januar. „Leergut“ ist der Titel einer Komödie, die als Film im Programmkino „Union“ am letzten Freitag des Monats läuft. Sehr entspannend oder heiter kann „Leergut“ nicht sein. Während der Vorstellung prügeln sich mehrere Mitglieder einer Familie im Zuschauerraum. Die Polizei „schlichtet“. Karl Kraus schreibt: „Eine Familie ist eine Ansammlung von Menschen, die nicht zueinander passen.“ Nach dieser Vorstellung von „Leergut“ schlägt eine 18-jährige in einer Tram der Linie 61 auf eine Angestellte der BVB ein. Während der nächsten Vorführung am späten Abend bleibt die Komödie weiter erfolglos, denn während der Darbietung prügeln sich erneut Zuschauer, mehr als vorher in der Familie. Wieder beendet die Polizei der nahen Wache in Friedrichshagen deren Besuch im Kino.

 

„Festnahmen nach Fußballspiel“

Januar. „Nach dem Spiel zwischen dem 1. FC Union Berlin und dem FC Sachsen Leipzig sind ... fünf Männer zeitweise festgenommen worden. Nach Angaben der Polizei wird einem Sachbeschädigung vorgeworfen, vier erhielten Anzeigen wegen Beleidigung und versuchter Gefangenenbefreiung.“ So der konservative „Tagesspiegel“ am 21. Januar 2007. Wirkt harmlos im Vergleich mit den Tatsachen. Ein so genannter Fan der Sachsen trat aus Wut gegen die Tür eines geparkten Autos. Als ein Polizist dessen Personalien festhalten wollte, wurde er von weiteren Leipzigern so bedrängt, dass der Beamte seine Waffe ziehen musste. Über einen Notruf rief er Hilfe herbei. Erst einer größeren Gruppe von Polizisten gelang es nach Kampfeinsatz, ihren Kollegen aus der Traube von „Fans“ zu befreien. Die Leipziger hatten verhindern wollen, dass die Personalien des Türentreters aufgenommen werden. Dies fällt unter den juristischen Begriff „Gefangenenbeifreiung“.

 

Wie in Frankreich

Januar. Zeigt die Ampel rot, wird das wie an der Seine auch an der Spree kaum als Stoppsignal gesehen. Im Berliner Kommunikationsmuseum ist diese (Un-)Sitte dokumentiert. Der Fotograf Andreas Göx zeigt in Farbe die Berliner Ampel-Ignoranten. Aber Berlin ist nicht gleich Berlin, die Hauptstadt zerfällt in Kieze mit jeweils veränderter Lebenskultur. Eine leicht geduckte Aggressivität beobachtete der Mann mit der Kamera in Hellersdorf, einst zur Hauptstadt der DDR gehörend. Im Szenebereich Prenzlauer Berg wird Gelassenheit demonstriert, zeigt die Ampel auf rot und der Bewohner geht über den Zebrastreifen. Ruhig sind die Ignoranten in Marienfelde, wenn sie die rote Farbe missachten, wilder gehen sie am Schlesischen Tor auf die andere Straßenseite. Dieses Gebiet ist der neue Szenekiez.

 

Mehr Menschen, mehr Hunde

Februar. Erstmals seit 1997 stieg 2007 die Zahl der Bewohner von Berlin. Um 8.848 auf 3.404.037. Das war zu lesen im Statistischen Jahrbuch. Wohl wegen der vielen Menschen stieg auch die Zahl der Köter, an der Spree auch Töle genannt. Knapp 2.000 mehr Hunde sind es, insgesamt 108.509. Aber registriert wurden nur die, für die Steuern bezahlt werden. Kühe sind in Berlin mit 435 angegeben. In der Hauptstadt werden weniger Spirituosen produziert als in den Jahrzehnten zuvor. Aber es wird ständig mehr gesoffen, nicht nur von den vielen Touristen. An der Spree besteht ein hoher Eigenbedarf. Beleg „Der Tagesspiegel“ vom 21. Januar 2008: „Berlins Jugendliche trinken weiter – oft sogar bis zur Bewusstlosigkeit.“ Kranke Berliner müssen sich nicht sorgen, auf nur 492 Einwohner kommt ein Arzt. Das Durchschnittseinkommen beträgt nach Angaben der Statistiker 1.474 Euro. Bernhard Tacke, einst stellvertretender Vorsitzender des DGB und Tarifpolitiker, beschrieb die Berechnungsgrundlage des Durchschnitts so: Ich fresse zwei Koteletts, du frisst keines, also fraß jeder von uns statistisch gesehen ein Kotelett. Das Haushaltsnettoeinkommen beläuft sich in Steglitz-Zehlendorf auf 1.850 Euro, in Charlottenburg-Wilmersdorf sind es 1.600 Euro, aber in Neukölln lediglich 1.300 Euro.

Im Jahre 2007 kamen 17,3 Millionen Besucher, überwiegend Touristen, in die Stadt. Wäre interessant zu berechnen, auf wie viele dieser Touristen ein Bewohner der Stadt im Laufe von zwölf Monaten trifft. Für die „Fremden“ standen knapp 90.000 Hotelbetten zur Verfügung. Die Zahl an Angeboten steigt, es wird aber mehr in Billig-Herbergen investiert. Ein Fünf-Sterne-Haus brachte einen Nachtumsatz von 167 Euro. Bei drei Sternen waren es 70 Euro. Das ist wenig im internationalen Vergleich, klagen die Hoteliers.

 

Berlin ist sicher ...

Februar. ... aber nicht überall. So zum Beispiel nicht in Lichtenberg, insbesondere im Bereich um die Weitlingstraße. Auch sehr unsicher ist der Szenebezirk Prenzlauer Berg, dort sind es die Schönhauser Allee, die Eberswalder- und die Greifswalderstraße. Hier werden auffällig oft Passanten von Jugendlichen zusammengeschlagen. In einigen Berliner Medien stand, sie würden „grundlos“ angegriffen und verprügelt. Die Hälfte dieser Taten wird in sieben von 92 Berliner Ortsteilen ausgeführt. Das ergab eine Studie, die der Innensenator vorstellte. Darin heißt es: „Rechtsextremistische Gewalttäter sind jung, ungebildet, handeln spontan, und sie schlagen insbesondere in den Ostbezirken zu.“

 

Bauch trotz Bio

Februar. Der Schauspieler Dietmar Bär fällt auf den ersten Blick nicht auf. Er ist gekleidet wie wohl die meisten Männer in seinem Alter im Dortmunder Stadtteil Eving-Lindenhorst, wenn die mal einkaufen – aber die gehen zu „Rewe“, er ist Bio-Fan und deshalb Kunde bei „Alnatura“ in den Wilmersdorfer-Passagen. Dietmar Bär stammt aus Dortmund. In einem Interview sagte er mal: „Der Ruhrgebietler an sich ist ja kein Italiener.“ Der Schauspieler sieht in den Krimis des WDR eindeutig besser aus als im realen Leben. Dass er Bioware bevorzugt, ist ihm nicht anzusehen, im Gegenteil: So könnte er auch den Lieblingsgerichten der Ur-Berliner frönen, die da sind Eisbein und/oder Buletten. Vielleicht ist er auch deshalb wohlbeleibt, weil er üppig einkauft. Dietmar Bär wirkt bärbeißig. Er schaut die Kunden nicht an mit dem Blick: Erkennen Sie mich denn nicht? Durch seine Unauffälligkeit hebt er sich wohltuend ab – von den sonstigen schrillen Typen aus der Szene. Nach dem Einkauf sehe ich ihn noch einmal: In der Buchhandlung Hugendubel nahe der Gedächtniskirche. Er ist im Porträt abgebildet auf der Verpackung eines Hörbuches. Fotografen und Kameraleute sind die wahren Künstler.

Kant-Café

Erhard bleibt weg

Februar. Tag für Tag saß der Gast über Jahre im „Kant-Café“ meist auf demselben Platz. Er hockte stundenlang hinter einer Kaffeetasse und las sämtliche dort ausliegende Zeitungen. Und rauchte. Der Mann trug eine Art Seemannsbart und hätte, so wie er aussah, gut Reklame für Fischstäbchen machen können. Seit einiger Zeit sehe ich ihn nicht mehr. Könnte es an dem Rauchverbot liegen, das im „Kant-Café“ strikt eingehalten wird? Der Gast heißt Erhard, erfahre ich. Seit einem Jahr fehlt er. Von einem auf den anderen Tag „kam Erhard nicht mehr“. Niemand von den anderen Stammgästen wusste, wo Erhard wohnte. Er unterhielt sich auch nicht mit ihnen. Angestellte des Cafés haben nach ihm geforscht, selbst in der Bahnhofs-Mission angefragt. Nichts. Erhard kommt nicht mehr.

 

Bei „Jules Verne“

Februar. Den Kellner in dem Restaurant „Jules Verne“ an der S-Bahnstation Savignyplatz verunziert ein beachtliches Veilchen. Rund um sein rechtes Auge ist das Gesicht blau geschwollen. Die Stammgäste fragen. „Zivilcourage“ ist die knappe Antwort. Zu knapp, es wird weiter gefragt. Nach Feierabend gegen zwei Uhr belästigten in der S-Bahn am Bahnhof Westkreuz zwei Männer einen Fahrgast. „Obwohl der hochgewachsen war und nicht schmächtig aussah.“ Sie wollten sein Geld. Einer der beiden Jugendlichen war türkischstämmig. Der Kellner und ein anderer Fahrgast eilten dem Bedrängten zur Hilfe. Vom Bahnhof aus war die Polizei alarmiert worden. Als die Beamten in Zivil die Burschen festnahmen, schlug noch einer mit der Faust zu und traf das Auge des Kellners. „Du Rassist“, schrie der Deutsche. Der Kellner ist Österreicher. Am Montag schaute er in das Boulevardblatt „B.Z.“ und war enttäuscht: „Die haben den Fall nicht einmal erwähnt.“

Tage später sitzt eine Frau an einem größeren Tisch und hält Hof. Sie sitzt so wie auf vielen religiös orientierten Gemälden Jesus beim Abendmahl. Wenige Frauen und einige ihrer Jünger kommen nicht zu Wort, mit einer unangenehm schrillen Stimme überlagert die Frau mehrere Räume des Restaurants. Es besteht akute Angst, sie könnte damit das Geschirr zum Platzen bringen. Die Laute will absolut der Mittelpunkt sein, obwohl kaum einer ihrer Gäste am Tisch noch etwas sagt. Sie ist Freya Klier, die in der DDR verfolgt wurde. Über Jahre galt sie als „Bürgerrechtlerin“, was kein juristisch geschützter Beruf ist. Die Kellnerin Sophie stammt aus dem Ostteil und hat den Namen Freya Klier noch nie gehört. Was mich freut.

Eine Woche später sitzen der Ehemann von Senta Berger und ein sohnjunger Bursche am Tisch vier des Restaurants „Jules Verne“. Sie unterhalten sich sehr gedämpft. Gegen 13 Uhr schreitet SIE durch das Lokal. Obwohl es draußen grau ist, trägt Senta Berger eine üppige Sonnenbrille. Der Kameramann Lukas Marie Böhmer höhnt über derartige Auftritte: „Die wollen nicht auffallen.“ Bergers Ehemann springt auf, hilft ihr aus dem Mantel, ganz der Kavalier. Sie sitzen zu Dritt an dem Tisch, der aus dem Restaurant kaum einzusehen ist. Senta Berger schiebt die Sonnenbrille ins Haar. Und guckt ob jemand guckt. Die Schauspielerin unterhält sich ebenfalls gedämpft. Sie ist eine sehr aparte und attraktive Frau. Das Trio bleibt unauffällig. Senta Berger isst für 5,50 Euro fleischlos. Und trinkt dazu zwei Gläser Wein rosé. Zumindest so lange ich noch im Restaurant bin.

 

Erichs Erbe

Februar. Der Mann kommt während des Einkaufs bei „Kaiser’s“ auf mich zu und sagt, er habe Ärger mit der Krankenkasse. Im Oberkiefer fehlen die Zähne. Er war lange arbeitslos und lebt in einem Plattenbau. „Die zahlen mir das Urlaubsgeld nicht.“ Ich nehme an, in einer solchen Lage verschickte die Kasse Menschen in so eine Art Kur. Er habe „denen“ geschrieben, dass er seit seinem Rentenbezug „noch nicht einmal krank war. Nun will ich mal Urlaub machen, die sollen mir Urlaubsgeld zahlen.“ An seinen Augen sehe ich, er meint das ernst. Mehrere Minuten lang bemühe ich mich, ihm zu erklären, dass eine Krankenkasse nach dem Solidaritätsprinzip arbeite. Vergeblich. „Solidarität“, scheint in der realen DDR fremd gewesen zu sein. Es hat keinen Sinn zu argumentieren, es ist so, als riefe ich der Merkel zu, sie solle mal was entscheiden. „Ich bring dir demnächst mal die Papiere mit. Geantwortet haben die Gauner nicht.“

In einer Kiste mit sehr billigem Plastikspielzeug aus China wühlt ein Mann. Keines der Spielautos ist teurer als 2,50 Euro. Das Ergebnis von Kinderarbeit in Fernost. Laut mault er, „man kann gar nicht so viel verdienen, wie die Verbrecher hier verlangen. Die wollen nur mein Geld“, schimpft er auf die Supermarktbetreiber. Verunsichert über so einen Ausbruch frage ich eine Frau in einem weißen Kittel, die Waren in die Regale schiebt: „Hat der eine Meise?“ Sie lächelt schwach. „Was meinen Sie, wie oft ich mir hier täglich von den Kunden anhören muss, wir wollten nur deren Geld?“

Am späten Nachmittag sitze ich in einer Versammlung von Autorinnen und Schriftstellern. Bis auf zwei Ausnahmen kommen sie aus der früheren DDR. Einige sollen im Staat der Arbeiter und Bauern erfolgreich gewesen sein. Geplant wird ein Arbeitsprogramm für die nächsten Monate. Der Vorsitzende fragt, ob die Rechtsschreibreform ein Thema sei. Autor Ulbrich – erfreulicherweise fehlt das t am Ende – brüllt los, er „hasse diese Reform. Die wurde nur gemacht, dass Bertelsmann einen neuen Duden verkaufen kann.“ Sachlich falsch, denn die DDR war an der Reform so beteiligt wie Österreich, die Schweiz und Belgien für sein deutschsprachiges Gebiet. Und der Duden-Verlag in Mannheim ist kein Unternehmen des Hauses Bertelsmann. Widerspruch bringt nichts. Den lasse ich. Zumal das Wort Hass hier einigen schnell von den Lippen geht. Es wurde schon in der Schule auf den Klassenfeind gepredigt. Und so genau nehmen es mangels Feindes viele nicht. Ein ausgewiesener Germanist setzt an und will diese Reform verteidigen. Er kommt nur zu einem Satz. Der Mann wird von Autor Ulbrich unterbrochen und angeschrieen. Plötzlich springt der Schreihals auf und stürmt aus dem Tagungsraum. Agitation wurde gepredigt, Gesprächskultur ist sehr unterentwickelt.

Dieser Tag soll im Stammlokal beendet werden. Mein Nachbar am Tresen ist leidenschaftlicher Anhänger von Union Berlin, weil die Fans dieses Vereins als kritisch zum System eingestuft wurden – und dafür bei Schiedsrichterentscheidungen viel Unrecht ertragen mussten. Er war aber auch bis 1989 Mitglied der SED. Und der Vater hatte eine hohe Position im FDGB. Bei der Bundestagswahl teilte er seine beiden Stimmen: Für Gregor Gysi die eine, die andere für die NPD. Wie meist, so höre ich wieder, es sei nicht alles schlecht gewesen in der DDR. Das Gegenteil hatte ich nicht behauptet. „Eines war klar, anders als die BRD hat die DDR nicht eine Mark an die Juden gezahlt und denen nicht ein Haus zurückgegeben.“

Erich, Erich, was hast du aus der faszinierenden Idee des Sozialismus gemacht?

 

Marx unter Denkmalschutz

Februar. „Die Bücher gehen, die Neonschrift bleibt.“ Mit dieser Stilblüte als Überschrift berichtete ein angesehenes Hauptstadtblatt über das Ende der „Karl-Marx-Buchhandlung“ in der einstigen Stalinallee, nun nach Karl Marx benannt.Buchhandlung Am letzten Februartag ist Schluss. Ich gehe hin, die Bücher gehen nicht, sie liegen in Kartons oder stehen in Regalen. Es riecht direkt hinter der Eingangstür intensiv nach Putzmitteln der DDR. Wie es in der Buchhandlung riecht oder gar stinkt, roch es früher in allen öffentlichen Gebäuden des Kleinstaates und den Interzonenzügen. Die Möbel sind noch aus der Ära der Arbeiter und Bauern, der Geruch hat sich eingenistet, und wird wohl noch für Jahrzehnte erhalten bleiben. Die Buchhandlung an der 1951 geplanten und dann gebauten Prachtstraße im so genannten Zuckerbäckerstil der UdSSR umfasst 400 qm Verkaufsraum. Sie galt als Devisenabwurfstelle, weil hier Westler ihren Zwangsumtausch verhökerten. Selbst Heinrich Böll kaufte hier eher aus Daffke eine mehrbändige in Leder gebundene Ausgabe der Werke von Marx und Engels. Die Prachtausgabe der beiden Westler Marx und Engels liegt für 150 Euro weiter aus. Es sind immerhin 45 Bände. In der DDR war die Buchhandlung noch 1.500 qm groß und über zwei Stockwerke gebaut. Der bisherige Inhaber sitzt im Laden und gibt einer fülligen Reporterin ein Interview. Die meist älteren Besucher hören mit. Die 4.000 Euro Monatsmiete „kommen nicht mehr herein“, sagt der Buchhändler Erich Kundel. „Die Karl-Marx-Allee lädt nicht zum Bummeln ein, es gibt kaum Laufkundschaft.“ Die nun in den Stapeln von preislich herabgesetzten Büchern wühlen, könnten überwiegend noch mit Walter Ulbricht in der FDJ gewesen sein. Ein älterer Herr im weißen Staubmantel erzählt der kompakten Reporterin, „bei den Klassikern war die DDR gut“. An der Kasse steht der freiberufliche Journalist Günter Frech und redet mit einem Angestellten. Er schrieb für die Wochenzeitung „Freitag“, nun arbeitet er für Gewerkschaftsblätter und „Neues Deutschland.“ Wir sehen uns kurz an, grüßen aneinander nicht, denn wir mögen uns nicht. Ab März gibt es von der Buchhandlung weiterhin die Neonschrift über dem Eingang, denn die steht unter Denkmalschutz.

 

Zitate

„Auf nach unten“, überschreibt „Der Tagesspiegel“ seinen Bericht über den Start der Rückrunde von Hertha BSC in der Bundesliga. Es gab eine Niederlage von 0:3 gegen Eintracht Frankfurt. Herthas Trainer Favre „reagierte nach der Pause auf den Rückstand, indem er für einen defensiven Mittelfeldspieler einen defensiven Mittelfeldspieler einwechselte. Unter Druck gerieten die Frankfurter nie ... Für Hertha sprach gar nichts. Die Darbietungen der Mannschaft sind anhaltend bieder, die Stimmung im Stadion ist seit Monaten mies. In den letzten vier Heimspielen hat Hertha ein einziges Tor erzielt. Nicht mal 30 000 Zuschauer (offiziell 35 930) wollten den Rückrundenstart live erleben. Nach dem Spiel werden sie sich gefragt haben, ob sie den Samstag nicht besser dazu genutzt hätten, den Keller mal wieder aufzuräumen.“ (3. Februar 2008)
Genau eine Woche später heißt es im „Tagesspiegel“ vom 10. Februar:  „Warum sollte es für Hertha schwer werden, künftig attraktiven Fußball zu spielen? Gestern nämlich klappte ein Experiment von Favre geradezu vorzüglich. In Stuttgart überraschte der Schweizer mit einer Aufstellung, in deren Defensive eine von Malik Fathi, Josip Simunic  und Arne Friedrich  gebildete Dreierkette ihre Arbeit gut verrichtete.“
Im Religionsunterricht heißt es über die Verderblichkeit der Menschen an einem Beispiel: „Hosianna, Hosianna, kreuziget ihn.“ In der Sportredaktion des „Tagesspiegel“ ist es umgekehrt: „Kreuziget ihn, Hosianna, Hosianna.“

Die Journalistin Beate Wedekind ist gebürtige Duisburgerin. Sie war Chefredakteurin von „Elle“ und „Bunte“, in Berlin managte sie jeweils die Gala für „Bambi“ und „Goldene Kamera“. Sie zog von Berlin-Mitte weg nach Kreuzberg. In einem Interview sagte Beate Wedekind, sie habe nicht mehr gewollt, am Hackeschen Markt von Japanern gefragt zu werden, wo der Hackesche Markt liege. Über die weiteren Gründe des Wohnungswechsels: „Ich hatte Sehnsucht nach mehr Bodenständigkeit. Außerdem vermisste ich eine vernünftige Reinigung, einen guten Schuster und Kneipen, die keine reine Ausgehstation für die Szene sind. In Mitte hatte ich eine Nachbarin, die Kommunistin war. Die hat jahrelang kein Wort mit mir gewechselt, weil ich für sie immer noch der Klassenfeind war. In Neukölln reden die Menschen querbeet, das kommt meinem eigenen Mitteilungsbedürfnis sehr entgegen.“

Ein Nachbar von mir hier im Kiez war Oberst in der so genannten Nationalen Volksarmee. Sieht er mich auf der Straße, verweigert er mir den Gruß, läuft parteirot an. Er wechselt jeweils auf den anderen Bürgersteig und ist nun Gast in einer anderen Kneipe. Es heißt, er fahre nie nach West-Berlin und sehe in mir den Sieger. Dabei war ich nie Soldat.

„Seine so unterschiedlichen Kieze“, mag der Schauspieler Otto Sander an Berlin. Und würde Berlin nicht mehr mögen, „wenn es zu einer angepassten Großstadt wird“.

„Wenn ich in Berlin bin, besuche ich jedes Mal Bertolt Brechts Grab. Es ist ein wunderschöner Friedhof im Osten der Stadt und man kann dort noch die Einschusslöcher aus dem Krieg sehen.“
Patti Smith, Sängerin.

„Ein Kasernenhof von städtischem Ausmaß, ein pockennarbiges, mit Beton begradigtes Pflaster, der Kronenkorken als öffentliche Anlage, ein Rekrutenstall als urbane Norm.“
Der in Dresden geborene Schriftsteller Durs Grünbein über Berlin.

„Ich war in letzter Zeit oft in Berlin, mir gefällt die Stadt total.“
Roland Emmerich, Regisseur.

Kochstube

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