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Auszug aus:

Hans Dieter Baroth

Das werde ich nie vergessen:
Geschichten aus dem Ruhrgebiet

Bild-/Textband, Essen 2005

Buchumschlag

In diesem Buch wird der Wandel im Revier in Reportagen beschrieben und mit Fotos belegt.

Die Brücke

„Da kommen sie, da kommen sie“, riefen jubelnd Kinder. Sie hatten sich in Oer-Erkenschwick auf der Zechenbahnbrücke postiert. Über die Gleise kamen vom Bergwerk Fußballer in Spielkleidung, die Einheimischen von der Spielvereinigung Erkenschwick und die Gegner: Schalker oder Dortmunder zogen besonderes Interesse auf sich. Blauweiß gewandet näherten sich über die Bahnschwellen Ernst Kuzorra, Fritz Szepan, der hoch gewachsene Schalker Torwart Hans Klodt; in schwarzgelben Kluften August Lenz, Pat Koschmieder und Adi Preißler. Die Kinder sahen den berühmten Spielern auf die Scheitel. Unten gingen diese weiter über den Schienenstrang, auf dem die Zechenbahn Kohle nach Marl-Sinsen zum Anschluss an die Reichsbahn transportierte. Von dort wurde sie in die verschiedensten Gebiete Deutschlands gefahren. Nach dem Krieg hieß es, unsere Kohle werde nach England gebracht. Noch hundert Meter teckerten die Kicker in ihren Stollenschuhen unsicheren Schrittes über die Schwellen, dann liefen sie an einer Böschung hoch in Richtung Stimbergstadion. Dort warteten gelegentlich Zehntausende auf sie. In der Kriegszeit und einige Jahre danach zogen sich die Fußballspieler in der Kaue des Pütts um. Nach dem Abpfiff ging es denselben Weg zurück. Und das in der höchsten Fußballklasse.

Den Ort durchtrennte die Zechenbahn. In der Mitte meiner Heimatstadt erhob sich das Bergwerk. Wer die Gemeinde durchqueren wollte, musste über die Brücke. Wie eine Grenze durchschnitt die Bahnlinie die Stadt. Im engeren Bereich des Zentrums gab es nur einen Übergang – die Zechenbrücke. „Da kommen sie, da kommen sie“, das bezog sich nicht nur auf die Fußballer. Nachmittags fuhren lange Kohlenzüge nach Marl. Vorn schnaufte eine Lokomotive. Presste sie in kurzen, heftigen Schüben den Dampf in den Himmel, war zu empfinden, wie schwer auch Maschinen arbeiteten. Die Brücke hatte eine asphaltierte Fahrbahn und einen Fußgängerweg mit Holzbrettern. Durch die Ritzen der Bretter wurde von unten Dampf gedrückt, Menschen verschwanden oben im weißen Nebel. Das genossen juchzend die so genannten Blagen. Meist schob am Ende der Güterwagen eine zweite Lok den schweren Transport zusätzlich an. Hatte der Kohlenzug genug Fahrt, kehrte sie zurück zum Lokschuppen, dann wie erleichtert, nur noch wenig Dampf kam bei der Rücktour aus dem Schornstein. Die Dampfbäder auf der Brücke gehörten zu den dramatischen Erlebnissen der Kindheit. Wenn der Kohlenzug zusammengestellt wurde, zog eine Lokomotive zunächst einige Waggons unter der Brücke hindurch, schob sie danach wieder zurück auf ein anderes Gleis, wo weitere Wagen angekoppelt wurden, so entstand der lange Transportzug. Bei jeder Rangierfahrt wurde der Steg auf der Brücke eingenebelt.

Wer in eine höhere Schule wollte, wurde zuvor geprüft und musste dabei auch ein Diktat schreiben. Unsere Lehrerin wählte als Thema die Brücke. Ein Mädchen wollte von dem einen in den anderen Teil der Stadt. Auf der Zechenbrücke vertrödelte die Kleine viel Zeit, sie wartete auf eine Lokomotive, die Dampf nach oben stoßen sollte. Änne hieß das Mädchen. Die Stolperstelle im Diktat war dieser Name. Wer Enne schrieb, hatte weniger Chancen.

Als ich im Pütt arbeitete, musste ich mit meinen Kumpeln aus unserem Stadtteil über die Brücke. Vom späten Herbst bis zum Frühjahr gingen wir bei Morgenschicht im Dunkeln. Links von ihr waren die Übertagebauten in gleißendem Licht zu sehen. Von den drei Fördertürmen strahlten Lampen herab. War es taghell, ging hinter ihnen die Sonne auf. Rechts sahen wir auf die flache westfälische Landschaft. Zwischen dem Heimatpütt und Marl lagen vereinzelt Bauernhöfe. Verunglückte ein Bergmann, wurde er in der Leichenhalle des Pütts aufgebahrt. Der Trauerzug mit Bergwerkskapelle führte über die Brücke in den anderen Stadtteil. Dort liegt bis in die Gegenwart der Friedhof. Entgegengesetzt liefen darüber am Ersten Mai die demonstrierenden Bergleute mit Fahnen und Transparenten, viele Jahre zum Kundgebungsplatz vor dem Rathaus, danach in die Stadthalle. An der Spitze marschierten die Kollegen der Bergwerkskapelle.

Manche Veränderungen in der Stadt waren an der Brücke zu beobachten. Am Stadion wurden Umkleidekabinen für die Fußballer gebaut, die Helden am Ball mussten nicht mehr in die Bergwerkskaue. Die werkseigene Leichenhalle blieb für immer verschlossen. Bis in die sechziger Jahre wurde unter der Brücke rangiert, die Züge fuhren nach Marl. Dann transportierten sie die Kohlen über eine andere Strecke, die Schienen wurden abmontiert, die Schottersteine blieben. Nach und nach überwucherte sie die Natur. Aber die Brücke blieb. Wie ein Denkmal für die Industriezeit. Sie war weiterhin der einzige Übergang im Zentrum der Stadt. Ende der achtziger Jahre sah ich am Ersten Mai noch einmal einen Demonstrationszug in den anderen Stadtteil ziehen. Die Fahnen wehten gegen die aufgehende Sonne, der Pütt bildete den scherenschnittähnlichen Hintergrund. Über zehn Jahre später gibt es die Brücke nicht mehr. Die Zeche war inzwischen stillgelegt. Auf einer freien Fläche stand trotz Maiwetter wie frierend nur noch ein Förderturm. Die Straße zwischen den beiden Ortsteilen war abgesenkt. Westfalia Herne spielte als Gast im Stadion. Wo früher die Spieler über die Bahnstrecke gelaufen kamen, stehen kräftige Bäume. Viele Zuschauer wussten bei der Anfahrt nicht, dass sie vor Jahren noch hätten über eine Zechenbahnbrücke fahren müssen. Dass es hier ein Bergwerk gab, daran erinnert der metallene Förderturm.

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