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Auszug aus:

Hans Dieter Baroth

Mann ohne Namen

Roman, Essen 1987

“Ihr trinkt doch noch einen Kaffee oben, näch?” Die Frage der Witwe an die Verwandten, die im Ort wohnten oder aus nahen Nachbargemeinden gekommen waren, war eine Mitteilung; deshalb wartete sie auch nicht auf eine Antwort. Die schwarz gekleideten Männer und Frauen hatten nichts gesagt. Sie waren ihr still in die kleine Wohnung des Bergmannshauses gefolgt. Wie vor der Beerdigung, so setzten sie sich wiederum drucksend auf die Couch und in die Sessel um den mit einer gemusterten Tischdecke belegten Tisch, der den sperrigen Mittelpunkt des Raumes bildete.

Obwohl sie alle vorher Alkohol getrunken hatten, mochte keine fröhliche oder ausgelassene Stimmung aufkommen – das war nur einige Zeit vorher in der Gaststätte so, die mit ihrer anonymen Einfachheit keinen der Trauergäste mehr an den Toten erinnert hatte. In dem Wohnzimmer aber hingen Fotos von ihm; jeder wußte, daß er zusammengerechnet vielleicht Jahre seines Lebens vor dem jetzt blinden Bildschirm verbracht hatte. Fast mechanisch waren die Bewegungen der Witwe, die in der winzigen, sauberen Küche das Wasser zum Kochen brachte, um dann den Kaffee, wie sie den stummen Männern und Frauen sagte, noch etwas ziehen zu lassen. An vergangene Erlebnisse mit ihm denkend, stellte sie die Tassen auf die kleinen Unterteller, legte die Löffel daneben, die jeweils leicht an das einfache Kaufhausporzellan stießen.

“Naja”, seufzte ein Verwandte, ihren Satz langziehend, “immerhin ist er über 75 Jahre alt geworden, wer wurde das schon früher in dem Beruf?”

“Wenn der Krieg nicht gewesen wäre, hätte er mehr als vierzig Jahre im Akkord gemacht”, ergänzte einer aus der steif sitzenden Gruppe die offensichtlich positive Bilanz seines Lebens.

“Das hätte nicht automatisch so sein müssen. Über vierzig Jahre im Akkord, das schafft doch keiner”, relativierte ein anderer die Rechnung.

“Er hatte eigentlich nur am Schluß, als er schon älter war, schöne Jahre. In der Jugend, in den guten Jahren nicht. Der hatte im Herbst erst seinen Frühling.” Alle blickten die Verwandte an, eine Frau um die dreißig, die eine Realschule besucht hatte und zum Ärger ihrer Nachbarn das auch oft erwähnte. Die Witwe hatte aufgehört, die Tassen um den Tisch herum zu plazieren, sie sagte tonlos, aber doch lauernd: “Wie meinst du das denn?”

“Sieh mal Tante”, antwortete die Angesprochene in einer Redeweise, die die anderen im Raum als gedrechselt empfanden, “er ist nulldrei geboren.”

“Und”, fragte die Witwe immer noch auf der Hut, weil sie nicht begriff, was ihre Nichte sagen wollte, - ob es wohlmeinend oder eine versteckte Kritik war.

“Also”, dozierte die junge Frau, die spürte, daß alle ein wenig gereizt waren und von ihr erwarteten, daß sie, wie es in ihren Reden üblich war, endlich auf den Punkt komme. “Also”, wiederholte sie, “er ist 1903 geboren, als er zehn war, gab es bald Krieg. Als Kind hatte er nicht viel zu essen. Als er zwanzig Jahre alt war, hatten die Franzosen das Ruhrgebiet besetzt, und es gab die Inflation. Wiederum war es mit dem Essen nicht weit her, oder?” Alle sahen sie gespannt an. “Als er 30 Jahre alt war, kamen die Nazis ans Ruder, das war ja wohl nichts. Als er vierzig war, müssen die Bomben ja nur so vom Himmel gefallen sein, da war er doch schon alt und hatte noch nichts vom Leben gehabt, außer Arbeit und oft Hunger. Im Jahre 1953, als es wieder aufwärts ging, da war der schon 50 Jahre alt. Ende der fünfziger Jahre, Tante, da habt ihr geheiratet, da hatte er erst seinen Frühling. Das kann man doch wohl so sehen, oder?” Sie beendete ihre Sätze oft mit Fragen. Es war eine Angewohnheit von ihr. Sie war sich der Fragen nicht bewußt, ihre Zuhörer antworteten nie.

Alle schwiegen, die Witwe verließ das Wohnzimmer, um den Kaffee zu holen. Als sie ihn in die Tassen goß, die ihr entgegengehalten wurden, sagte niemand ein Wort. Die nüchterne Aufzählung der Lebensdaten im Vergleich mit den Ereignissen aus der Geschichte hatte alle beeindruckt. Zwei oder drei Teilnehmer der Runde schlürften das für sie offensichtlich zu heiße Getränk genüßlich über den Tassenrand in den Mund. Die Männer hatten auch noch in der Wohnung ihre Mäntel an, weil sie nur kurz aus Höflichkeit mit in das Zimmer kommen wollten. Jeder von ihnen fürchtete sich vor dem bevorstehenden Abschied von der Frau, denn niemand wollte der Letzte sein, der die dann Weinende in ihrer Wohnung zurücklassen mußte.

“Wann ist er denn genau geboren”, fragte einer in die nachdenkliche Stille hinein, während er aus seiner Jackettasche mit umständlichen Körperbewegungen einen schmalen Taschenrechner hervorholte.

“Am 6. Juli 1903, aber nicht hier, in Lünen. Warum?”

“Wenn du mir seine Daten gibst, dann kann ich auf dem Gerät hier”, er sagte es stolz, “ausrechnen, wieviele Stunden er gelebt hat...”

“Wen interessiert dat denn”, fuhr einer gereizt dazwischen, weil er meinte, die skeptisch dreinblickende Witwe vor solchen Überlegungen schützen zu müssen. Doch sie fragte interessiert, ob das nicht sehr umständlich und langwierig sei, was er verneinte. Der kleine Computer, wie er den Rechner nannte, sei bis weit über das Jahr 2000 mit Zahlen gefüttert.

“Bevor ich das hier ausrechne, ratet mal, wieviele Stunden so ein Mensch von 75 Jahren wohl so gelebt hat?”

“Du bist hier nicht in einer Ratesendung im Fernsehen”, raunzte einer über den Tisch und stellte mit sichtlicher Verärgerung seine noch fast völlig gefüllte Tasse auf den Tisch zurück, so ruckartig, daß es aussah, als würde der Kaffee über den Tassenrand auf die Tischdecke schwappen.

“So zwei oder drei Millionen Stunden werden es wohl schon gewesen sein”, sagte eine Frau, die gut zehn Jahre jünger als die Witwe war

“Tante, nenn mir die Daten, ich kann das hier ausrechnen.”

“Er ist geboren worden am 6. Juli 1903, aber nicht hier, in Lünen. Und gestorben ist er am 4. Februar 1979. Das weiß ja wohl jeder.”

Umständlich wurden die Daten in den kleinen Taschenrechner gegeben, immer wieder versicherte sich der Verwandte, daß er auch keine falsche Taste drückte. Alle sahen auf seine Finger, die suchend und zögernd über die Zahlenfelder gingen, dann plötzlich nach unten fuhren. Er lehnte sich zurück, die Besucher schauten zu. “Also”, sagte er und kostete die erwartende Stimmung der Versammelten aus, “er ist genau 75 Komma fünf, acht Jahre alt geworden.” Die Männer und Frauen wollten mehr wissen, diese Zahl löste noch keine Überraschung oder Bewunderung aus. “Er ist, auf volle Tage gerechnet, 27.607 Tage alt geworden, das waren in den gut 75 Jahren 662.568 Stunden. Momento, Momento”, er hob die Hand, “gestorben ist er an einem Montag, geboren an einem Sonntag. Ein Sonntagskind, haha.”

Alle lehnten sich zurück, die Witwe, die jeder mit Tante ansprach, lehnte sich an das langgestreckte Sideboard, ihre Beine streckte sie etwas in den Raum; die schwarzen hochhackigen Schuhe hatte sie abgezogen, kuschelige Pantoffeln bildeten den merkwürdigen Kontrast zu ihrem schwarzen Kostüm. Alle staunten, der Rechner genoß die Überraschung über die im Grunde wenigen Tage in einem langen Leben. Niemand in dem stickigen und mit Möbeln zu dicht bestückten Zimmer hatte einem Menschen mit über 75 Jahren weniger als eine Million Stunden gegeben. Jedem einzelnen wurde bewußt, daß er selbst die meisten Stunden des Lebens schon gelebt hatte, nutzlos zum Teil, er hatte sie vergeudet, dahinfließen lassen, die Zeit vertrieben, mit sinnlosen Tätigkeiten die angebliche Langeweile zugedeckt. Die vielen Stunden, die im Grunde so wenige waren, sie waren weg, unwiederbringlich, wie seine. Über 600.000 waren es nur, wieviele hatte er genutzt, genossen, ausgelebt, ausleben können?

“Also 39 Jahre hatte er im Akkord malocht, näch?” Die Frau am Sideboard nickte.

“Momento, Momento, das haben wir gleich. Das sind 14.235 Tage Schufterei. Einen Augenblick.”

Wieder gingen die Finger zögernd über die Tasten, um dann, wenn die richtigen erreicht waren, hastig niederzufahren. “Also das sind 2033 Wochen, die er auf dem Pütt verlebte, was heißt verleben, schuften mußte. Momento, Momento.” Offensichtlich war ihm etwas anderes eingefallen. “Das waren 14.235 Tage. Das ist nicht richtig. Ziehen wir mal pro Jahr 70 Tage ab, für Urlaub, Sonntage und so. Krank war er ja kaum. Momento, Momento. Also das sind 295 Tage mal 39, Augenblick, das sind, ja, da habe ich es, genau 11.505 Tage hat er malochen müssen. Und etwas über 27.000 Tage hat er nur gelebt.”

Bevor die Gruppe weiter sinnieren konnte, legte er noch eine Berechnung zu, - er genoß die Gunst der Trauerstunde.

“Wenn er jeden Tag eine Stunde insgesamt unterwegs war, um von der Arbeit zu kommen und dort hinzugehen oder zu fahren, dann war er 11.505 Stunden auf Achse, damit er auch arbeiten konnte oder ihr entkam.” Dabei lachte er über seine gelungene Formulierung, denn er fühlte sich mehr auf einem bunten Abend als bei einer Zusammenkunft nach einer Beerdigung.

“Acht Stunden hat er pro Tag unten gearbeitet, so im Schnitt.” Er grinste seine Verwandten an und blinzelte mit dem rechten Auge. “Das sind, Momento, Momento, genau 92.040 Stunden, 'ne verdammt lange Zeit. Wäre die Arbeitslosigkeit nicht dazwischengekommen, dann hätte er doch glatt 100.000 Stunden im Gedinge verbracht.” Und nach einer gekonnt eingelegten Pause:

“Das hätte keiner gedacht, wat?”

Niemand antwortete. Zwei nickten.

“Hast du beruflich mit dieser Rechnerei zu tun”, fragte ihn die Witwe, die als einzige noch immer stand. Er verneinte ihre Frage, er mache das nur so, aus Interesse, weil er irgendwann mal den Rechner als Werbegeschenk bekommen habe; kaufen würde er sich sowas nie

“Tja”, sagte nach einer, von vielen als zu lang empfundenen Pause, “das Leben ist wie eine Hühnerleiter: kurz und beschissen.”

“Oder wie eine Brille: man macht viel durch”; verschärfte ein anderer im Raum den Trend zu Witzen. Beide merkten aber an dem betroffenen Schweigen und den empörten Blicken, daß die Scherze keine Abnehmer fanden. Auch die beiden Männer schwiegen.

“Das hätte ich nicht gedacht. Daß es so wenig Stunden sind. Auch Tage waren es ja nicht soviele, näch?” Die Frau mit der höheren Schulbildung durchbrach mit ihrer Feststellung die quälende Atmosphäre in der Wohnung. In den letzten Minuten hatte sich niemand gedanklich mit dem Toten beschäftigt, - jeder mit sich selbst und seinem Leben. Keiner fragte sich, was die über 2000 Wochen Arbeit auf der Zeche gebracht hatten. Er lebte in einer Wohnung, die nach den Bedürfnissen des Vermieters gebaut worden war, deren Baukosten er im Laufe seines Lebens mit der Miete mehrmals bezahlte; von den Erträgen seiner Arbeit ernährten sich Aktionäre, die er nie sah und die ihn nicht kannten; es wurden davon Beamte bezahlt, die sein Leben verwalteten, Minister, die ihn regierten und auch gegen seinen Willen über ihn entschieden; von dem Erlös seiner Arbeit wurden Soldaten besoldet, die für seine Freiheit kämpften, die ihm nie viel bedeutete. Als diese von seiner Arbeit mitbezahlten Soldaten zwei Kriege verloren hatten, änderte sich an seinen Arbeitsverhältnissen kaum etwas; von dem von ihm erarbeiteten Geld wurden im Laufe seines Lebens Waffen gebaut und gekauft, damit ihm nichts geschehen könne. Daran dachten seine Verwandten nicht.

Als seine ehemalige Frau den noch immer heißen Kaffee erneut in ihre Tasse laufen ließ, sagte die Frau mit der gehobenen Schulbildung: “Tante, Bohnen-Kaffee wirst du dir aber weiterhin leisten, näch?” Auf die konkrete Frage erhielt sie auch eine Antwort ihrer Tante, die sich erneut an das Sideboard zurückgelehnt hatte und wieder Leben in ihre Augen bekam.

“Aber ja”, sagte sie auffallend laut, “Bohnen-Kaffee werde ich mir leisten können. Er hat mir eine gute Rente hinterlassen. Auch gute Butter werde ich mir kaufen können, jeden Tag.” “Das ist ja schön. Er hat ja auch viel geschuftet im Leben, näch?” Keiner widersprach. Die Frau hatte mit der Frage den Schlußpunkt gesetzt. Für die Zukunft der Hinterbliebenen war gesorgt.

Die Verwandten verabschiedeten sich. Plötzlich hatten sich alle aus ihren Sesseln gewunden oder sich aus der Couch gequält, denn keiner wollte der letzte sein.

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